»Ewige Schuld?«

Neu betrachtet

Michael Wolffsohn bei der Buchpräsentation am vergangenen Donnerstag in Berlin Foto: Gregor Matthias Zielke

Ist Geschichtsschreibung für die Ewigkeit? Michael Wolffsohn glaubt das nicht. 35 Jahre nach der Erstveröffentlichung von Ewige Schuld? und 75 Jahre nach der Staatsgründung Israels legt der in Tel Aviv geborene und an der FU Berlin lehrende Historiker Michael Wolffsohn eine »selbstkritische und komplett überarbeitete Neufassung« seines Standardwerks vor.

Im Rahmen einer Gesprächsrunde vergangenen Donnerstag in einem Berliner Hotel, zu der auch Ron Prosor, Botschafter des Staates Israels in Berlin, der arabisch-israelische Psychologe Ahmad Mansour und »Spiegel«-Journalist Christoph Schult eingeladen waren, sprach Wolffsohn über seine Neuveröffentlichung mit dem Titelzusatz »75 Jahre deutsch-jüdisch-israelische Beziehungen«. Sebastian Engelbrecht vom Deutschlandfunk moderierte die Veranstaltung.

standardwerk Wolffsohns Monografie Ewige Schuld? galt für Generationen von Studierenden, Wissenschaftlern und politisch Interessierten als Standardwerk über die deutsch-israelischen Beziehungen. In dem Buch wird die Verflechtungsgeschichte beider Staaten untersucht, und die Rolle, die der Holocaust, der Antisemitismus, die Staatsgründung Israels und die historische Aufarbeitung in der Bundesrepublik dabei spielen.

Wolffsohns Klassiker ist es zu verdanken, dass der Begriff der »Geschichtspolitik« in den Geisteswissenschaften etabliert worden ist. Wie viel komplexer die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel in den vergangenen Jahren geworden sind, zeigt sich schon anhand der Seitenzahl, die sich im Vergleich mit der Erstveröffentlichung verdoppelt hat.

Ron Prosor, der nach eigener Aussage als Absolvent zwischenzeitlich überlegte, bei Wolffsohn zu promovieren, hielt eine Laudatio. Das Buch sei ein wichtiger Meilenstein, der die Beziehungen zwischen Israel und Deutschland in Worte fasst.

In seiner Rede kritisierte Prosor die jüngsten israelfeindlichen Demonstrationen in Berlin, betonte jedoch auch die positive Entwicklung des jüdischen Staates: »Nicht einmal 100 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg besitzt der jüdische Staat das Know-how und die praktische Erfahrung, um Deutschland und Europa zu helfen, sich zu verteidigen.«

autorität Wolffsohn sei, so Moderator Engelbrecht, in Deutschland die Autorität, wenn es um den Diskurs um Israel gehe. Dass er auch ein kritischer Wissenschaftler ist, der eigens aufgestellte Thesen modifiziert oder sogar verwirft, zeigt sich an seiner Herangehensweise. Sämtliche später ergänzten Ausführungen, Kapitel und Kommentare wurden von Wolffsohn blau gekennzeichnet. »Ohne Kritik und Selbstkritik oder -korrektur demaskiert sich Wissenschaft als Popanz oder Propaganda«, stellt Wolffsohn dem Buch voran.

Im Gespräch mit Engelbrecht betonte Wolffsohn, dass in der Neuausgabe Skepsis anstelle von Optimismus getreten sei. Mit Blick auf die deutsch-israelische Freundschaft sei ein Ungleichgewicht zu konstatieren: Seit den 80er-Jahren werde in der deutschen Bevölkerung die öffentliche Meinung über Israel immer schlechter. Laut Umfragen gehöre die Demokratie in der Region zu den drei unbeliebtesten Staaten.

Dagegen entwickelte sich das Deutschlandbild in der israelischen Bevölkerung in den letzten Jahren positiv. »Das kann man gerade in Berlin deutlich erkennen«, so Wolffsohn. »Das ist historisch eine unglaubliche Geschichte. Ich persifliere und meine das positiv: Sehr viele – meist linke – Israelis kommen hierher und glauben, hier, in der ehemaligen Zentrale des Völkermordes, den Nahostkonflikt lösen zu können. Das ist wirklich lebendige Freundschaft.«

Skepsis sei bei ihm anstelle von Optimismus getreten, so Wolffsohn.

An diesem Abend geht der Historiker auf sein neues Kapitel »Geschichte als Falle« ein. Der Ursprung für das Ungleichgewicht der bilateralen Freundschaft sei maßgeblich in der NS-Zeit zu finden, da in den beiden Gesellschaften »unterschiedliche Schlussfolgerungen für ihre Gegenwart und Zukunft gezogen« worden sind. Das »Nie wieder« sei in Bezug auf die beiden Worte zwar identisch. Doch Wolffsohn differenziert: »Juden sagen ›Nie wieder Opfer!‹ und deshalb: Ja zu Gewalt als legitimes Mittel der Politik. Reaktiv und präventiv. Deutsche sagen ›Nie wieder Täter!‹ und deshalb: Nein zu Gewalt als Mittel der Mittel.«

Im Gespräch mit Engelbrecht begründet der Historiker seine Skepsis mit einer fehlenden kulturellen Verjüngung des Judentums, die er früher noch erhoffte, und die Virulenz des linken, rechten und islamistischen Antisemitismus. Wolffsohn stellt jedoch nicht alle Thesen der Erstausgabe infrage, sondern wiederholt, dass »weder Verdrängen noch ›routinierte‹ Sühneritu­ale helfen, sondern nur die Einsicht in die Besonderheit einer Vergangenheit, die beide Seiten verbindet – im Guten wie im Schlechten«. 35 Jahre später fügt er jedoch hinzu: »Aber ohne die üblichen Worthülsen, die keiner mehr ernst nimmt.«

Diskussion Die Diskutanten schlossen sich seinem skeptischen Blick an. Mansour, der für die Neuauflage einen Essay beigesteuert hat, sagte: »Auch wenn man große Worte über die Freundschaft und die historische Verantwortung findet, habe ich das Gefühl, dass diese nur oberflächlich sind. Wenn es hart auf hart kommt, steht Israel allein. Und die Israelis wissen das auch.«

Er sehe derzeit keine überzeugenden Konzepte, wie die Beziehungen jenseits von Worthülsen normalisiert werden können. Die Antisemitismusprävention in der muslimischen Gemeinschaft sei deshalb wichtiger denn je. Auch Christoph Schult fühlte sich in seiner eigenen Skepsis bestätigt: Ereignisse wie der 11. September oder der Anschlag auf dem Breitscheidplatz hätten die Deutschen nicht für die Problematik des islamistischen Terrors sensibilisiert.

Wolffsohn schreibt im Vorwort zum Buch, er habe die »Chuzpe« gehabt, Ewige Schuld? nach 35 Jahren »der Öffentlichkeit erneut zuzumuten«. Aber nicht nur die vielen zusätzlichen Seiten der Neuauflage, sondern auch die Diskussion in Berlin machen deutlich: Eine aktualisierte Betrachtung der deutsch-israelischen Beziehungen ist unbedingt nötig.

Michael Wolffsohn: »Ewige Schuld? 75 Jahre deutsch-jüdisch-israelische Beziehungen«. Langen Müller, München 2023, 304 S., 24 €

Glosse

Auf, auf zum bewaffneten Kampf!

Eine deutsche Komikerin wechselte am Wochenende wieder einmal das Genre. Enissa Amani versuchte allen Ernstes, rund 150 Berlinern zu erklären, dass Nelson Mandela das Vorgehen der Hamas gegen Israel gutgeheißen hätte

von Michael Thaidigsmann  19.11.2025

Stuttgart

Polizei plant Großeinsatz bei Maccabi-Spiel

Vor den Europa-League-Auftritten gegen Maccabi Tel Aviv sind der VfB Stuttgart und der SC Freiburg alarmiert. Ein Fan-Ausschluss wie zuletzt in Birmingham ist momentan nicht geplant

 19.11.2025

Nazivergangenheit

Keine Ehrenmedaille für Rühmann und Riefenstahl

»NS-belastet« oder »NS-konform« – das trifft laut einer Studie auf 14 Persönlichkeiten der Filmbranche zu. Ihnen wird rückwirkend eine Auszeichnung aberkannt, die die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) zukünftig nicht mehr vergeben will

von Niklas Hesselmann  19.11.2025

Kommentar

Danke, Berlin!

Die Entscheidung der Behörden, einem Hamas-Fanboy die Staatsbürgerschaft zu entziehen, sendet ein unmissverständliches und notwendiges Signal an alle Israelhasser. Mit Mahnwachen allein können wir die Demokratie nicht verteidigen

von Imanuel Marcus  19.11.2025

München

LMU sagt Veranstaltung zu palästinensischer Wissenschaft ab

Die Universität verwies in ihrer Stellungnahme darauf, dass es erhebliche Zweifel gegeben habe, »ob es sich um eine wissenschaftliche Veranstaltung auf dem erforderlichen Niveau gehandelt hätte«

 19.11.2025

Internet

Expertin: Islamisten ködern Jugendliche über Lifestyle

Durch weibliche Stimmen werden auch Mädchen von Islamistinnen verstärkt angesprochen. Worauf Eltern achten sollten

 19.11.2025

Portrait

Die Frau, die das Grauen dokumentieren will

Kurz nach dem 7. Oktober 2023 gründete die israelische Juristin Cochav Elkayam-Levy eine Organisation, die die Verbrechen der Hamas an Frauen und Familien dokumentiert. Unser Redakteur sprach mit ihr über ihre Arbeit und ihren Frust über die Vereinten Nationen

von Michael Thaidigsmann  19.11.2025

Religion

Rabbiner: Macht keinen Unterschied, ob Ministerin Prien jüdisch ist

Karin Priens jüdische Wurzeln sind für Rabbiner Julian-Chaim Soussan nicht entscheidend. Warum er sich wünscht, dass Religionszugehörigkeit in der Politik bedeutungslos werden sollte

von Karin Wollschläger  19.11.2025

Riad/Istanbul

Scheinbar doch kein Treffen zwischen Witkoff und Hamas-Führer

Es geht um die Umsetzung der nächsten Schritte des Trump-Plans. Den zentralen Punkt der Entwaffnung der Hamas lehnt die Terrororganisation ab

 19.11.2025 Aktualisiert