Alfred Grosser

»Meine Gene sind optimistisch«

Alfred Grosser Foto: Silvia Hauptmann

Herr Grosser, Sie haben Ihr Buch »Le Mensch« genannt. Klingen im Titel bereits Ihre verschiedenen Identitäten an?
Nein, es geht um den Begriff des Menschen. Es gibt in Brüssel eine hervorragende liberale jüdische Zeitung, »Regards« – sie wählt jedes Jahr »Le Mensch de l’Année«, den »Menschen des Jahres«. Ich fand, das passt gut. Der Untertitel, »Die Ethik der Identitäten«, ist ein wenig zu abstrakt. Er lässt vermuten, dies sei ein philosophisches Buch – was es nicht ist.

Was macht für Sie ein »Mensch« im besten Sinne aus?
Dass er die Leiden der anderen versteht, sich selbst kritisch betrachtet und Distanz zu seinen verschiedenen Identitäten nehmen kann. Und dass er andere dahingehend beeinflusst, dass sie selbst mehr Mensch werden.

Sie wurden 1925 in Frankfurt geboren und mussten 1933 mit Ihren Eltern aus Deutschland fliehen. Inwiefern wurzeln Ihre Ansichten in Ihrer eigenen Familiengeschichte – samt Fluchterfahrung?
Wir wohnten im Frankfurter Westend, und die Frankfurter Juden sagten damals: »Das wird uns doch nichts angehen.« Mein Vater sah das anders – ihm wurde alles weggenommen: seine Kinderklinik, die Professur, und im Dezember 1933 haben wir Frankfurt verlassen. Am 19. Dezember kamen meine Eltern, meine Schwester und ich in Saint-Germain-en-Laye bei Paris an, am 6. Februar starb mein Vater. So tragisch das war – meine Assimilation in Frankreich wurde dadurch beschleunigt. Wären wir nach London ins jüdische Viertel Golders Green ausgewandert, wäre ich als Emigrantenkind groß geworden.

Sind Sie froh darüber, dass es anders gekommen ist?
Sehr froh. Ich habe nichts gegen Assimilation. Ich verstehe mich als total assimilierter Franzose, der die deutsche Sprache und Kultur beibehalten hat.

In »Le Mensch« schreiben Sie über Identitäten. Sie sind Franzose, Deutscher, Europäer und Jude …
Ich bin auch Beamter, der nicht arbeitslos werden kann, das ist auch sehr wichtig! Nein, im Ernst. Das ist eine völlig andere Identität als jemand, der arbeitslos ist oder werden kann. Und ich bin auch Pariser und habe dadurch viele kulturelle Vorteile – die Pariser Oper erhält ein Drittel des Musikbudgets Frankreichs!

Was bedeutet Ihnen Ihr Jüdischsein?
Meine beiden Eltern waren Juden. Ich bin beschnitten worden und habe eine Barmizwa gemacht – eine unschöne, muss ich leider sagen, denn ich musste so tun, als verstünde ich, was ich da lese. Ich konnte aber kein Hebräisch und habe rein phonetisch gelernt. Jude zu sein, bedeutet für mich zweierlei: Wenn Juden verfolgt werden, bin ich Jude, und wenn Juden verfolgen, ist meine Distanz zu meiner jüdischen Identität so groß, dass ich Israel mehr kritisiere für die Unterdrückung der Palästinenser als andere Staaten, die ihre Minoritäten viel mehr unterdrücken.

Gilt diese Distanz auch für Ihre französische Identität?
Natürlich. Während des Algerienkriegs bewirkte meine französische Identität, dass ich die französischen Kriegsmethoden viel mehr angegriffen habe als schlimmere Dinge, die andere verübt haben.

Was macht den Kern Ihrer Identität heute, im Alter von 92 Jahren, aus?
Mensch zu sein, mich in andere hineinzuversetzen. Ständig auf Distanz zu gehen zu mir selbst. Diese Infragestellung ist wesentlich. Man kann vieles nicht verstehen, wenn man nicht auch echtes Mitgefühl für andere entwickelt.

Sie besuchen oft Schulen – sowohl in Frankreich als auch in Deutschland – und sprechen mit jungen Leuten. Welche Werte geben Sie ihnen mit auf den Weg?
Ich versuche, ihnen zu vermitteln, dass sie eine Verantwortung haben. Ich zitiere dafür ständig den Widerstandskämpfer Hans Scholl, der in einem seiner letzten Briefe geschrieben hat: »Ich kann nicht abseits stehen, weil es abseits kein Glück gibt.« Ich versuche, die Jugendlichen davon zu überzeugen, dass dieser Satz mehr denn je zutrifft.

In »Le Mensch« sagen Sie, man brauche keine identifizierenden Zuschreibungen von außen. Was aber ist der authentische Kern von Identität, wenn man immerzu äußeren Einflüssen ausgesetzt ist?
Nicht die Einflüsse sind entscheidend, sondern die Bezeichnungen. Das ist ein großer Unterschied. Wogegen ich mich wehre, ist der Finger, der auf einen zeigt. »Die« Deutschen, »die« Juden, »die« Frauen, »die« Flüchtlinge. In Israel etwa sprach man lange von »den« Deutschen. Man kann jedoch viele Identitäten haben, ohne so bezeichnet zu werden. Ein Beispiel dafür ist der von mir sehr bewunderte Daniel Barenboim. Er hat alle Pässe der Welt – er ist Argentinier, Deutscher, Israeli, Palästinenser. Es ist dieser Finger von außen, der den Menschen vergiftet, seine Menschlichkeit blockiert. Ich halte es da mit meinem Lieblingsphilosophen Emmanuel Lévinas: Was der andere ist, sollte dieser selbst sagen. Häufig ist aber das Gegenteil der Fall: Der andere wird schlicht zu dem, was andere von ihm sagen.

Welche Unterschiede fallen Ihnen diesbezüglich zwischen Frankreich und Deutschland auf?
In Deutschland zeigt man zum Beispiel mit dem Finger auf Einwanderer – »Menschen mit Migrationshintergrund« ist hier eine häufige Zuschreibung, mit der man sich letztlich von ihnen abgrenzt. Unser früherer Premierminister Manuel Valls ist seit 1982 Franzose, unsere Erziehungsministerin Najat Vallaud-Belkacem hat seit 1995 den französischen Pass. Niemand in Frankreich käme auf die Idee, sie als echte Franzosen infrage zu stellen. Das »die« müsste in Schulklassen verboten werden. Denn es ist ein ständiger Begleiter.

Derzeit erleben wir nationale Egoismen im Aufwind. Wie bedroht ist Europa angesichts des länderübergreifenden Zuspruchs für rechtspopulistische Parteien?
Ich habe einmal mit Pegida-Leuten diskutiert und sie gefragt: »Ihr wollt das Abendland verteidigen? Was ist überhaupt die Idee des Abendlandes? Das sind Dutzende Millionen Tote in zwei Weltkriegen, das ist Sklaverei, das sind sechs Millionen tote Juden – das ist das Abendland, das ihr verteidigen wollt.« So hätten sie es nicht gemeint. Ja, aber was dann? Ich würde sagen, Europa ist weniger von Marine Le Pen oder der AfD bedroht als von der Vernachlässigung der europäischen Idee.

Wie kann diese Idee gelingen?
Ich bin da der gleichen Ansicht wie Wolfgang Schäuble – es muss ein Europa in mehreren Geschwindigkeiten geben. Nehmen Sie allein die Zugkraft des Euro – immer mehr Staaten sind hinzugekommen, immer mehr wollen dazugehören.

Sie brechen leidenschaftlich eine Lanze für politisches Engagement. Dabei nimmt die Politikverdrossenheit zu. Viele Leute hinterfragen nicht einmal mehr Meldungen. Woran liegt das aus Ihrer Sicht?
Ich glaube wirklich, dass die Politikverdrossenheit weitgehend von Unwissenheit herrührt. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In einer Umfrage wollte kürzlich ein deutsches Meinungsforschungsinstitut von Leuten wissen, was sie von den Maßnahmen zur Eingliederung von Flüchtlingen halten. Es gab keine Vorfrage wie etwa: »Was wissen Sie von den Maßnahmen?« Die Antworten kamen von Leuten, die keine Ahnung hatten. Die Demoskopen sprachen dann anschließend von »den Deutschen«. Da haben wir es wieder – das unsägliche »die«. Daran müssen wir etwas ändern.

Sie blicken auf mehr als 80 Jahre europäischer Politik und Geschichte zurück, die Sie als Politikberater maßgeblich mitgestaltet haben. Welches sind aus Ihrer Sicht die größten europäischen Errungenschaften?
Die größten Errungenschaften haben wir, die Opfer Hitlers, bewirkt, die direkt nach dem Krieg gesagt haben: »Es gibt nicht ›die‹ Deutschen.« Das war die Voraussetzung, um die deutsch-französischen Beziehungen aufzubauen. Das verdanken wir drei großen Männern, die selbst Nazi-Opfer waren: dem deutschen Soziologen Eugen Kogon, dem Italiener Altiero Spinelli und dem französischem Widerstandskämpfer und europäischen Föderalisten Henri Frenay. Diese drei gründeten 1947 die erste Europabewegung. Das waren die großen Leistungen. Der deutsch-französische Motor hat Europa immer wieder vorangebracht.

Was an Europa macht Ihnen derzeit Mut?
Was mir Mut machen würde, wäre, wenn Emmanuel Macron Präsident würde. Er ist der einzige unter den Präsidentschaftskandidaten, der wirklich europäisch und deutsch-französisch ausgerichtet ist. Deswegen unterstütze ich ihn, so gut ich kann. Macron ist meine Hoffnung. Auch Angela Merkel ermutigt mich. Ich finde, dass sie wirklich im Namen von Europa spricht. Dabei ist sie in einer schwierigen Lage – zwischen Trump, Erdogan und Putin.

Wie schätzen Sie die Chancen von Marine Le Pen ein, Frankreichs nächste Präsidentin zu werden?
Diese Gefahr wird von der deutschen Presse total überschätzt. Sie kann in der Stichwahl nicht gewinnen. Auch wenn die Unterstützung für sie in manchen Regionen groß ist. Nehmen Sie etwa das Elsass: Dort gibt es Gegenden, die sehr reich sind – es gibt dort keine Ausländer, keine Arbeitslosen, und die Leute wählen Le Pen. Warum? Es könnte sich doch einmal etwas ändern. Das ist total irrational. Viele Leute fühlen sich von der Politik ausgestoßen und denken anti-europäisch, dabei wissen sie gar nicht, was sie an Europa haben, etwa die subventionierten landwirtschaftlichen Verbände. Positive Europa-Aspekte hingegen werden oftmals zu wenig hervorgehoben oder gar nicht erwähnt – das ist einer der Gründe für die Europamüdigkeit.

An welche Aspekte denken Sie dabei?
An das deutsch-französische Jugendwerk zum Beispiel. Es feierte vor Kurzem 50-jähriges Jubiläum. Doch berichtet wurde kaum darüber. Dabei leistet diese Organisation eine fantastische Arbeit. Auch in der ersten TV-Debatte der französischen Präsidentschaftskandidaten spielte Europa kaum eine Rolle. Man muss das Thema nach vorne bringen!

Steht Europa womöglich an einem Scheideweg?
Ja, aber nur, weil es im Osten Europas schlimmer wird – blicken wir nur einmal nach Warschau und Budapest. Es gibt Artikel 50, den die britische Premierministerin nun endlich anwendet, es gibt Artikel 49, der die Türkei ausschließt: Man muss die Grundwerte respektieren, um anzukommen. Aber es gibt keinen Artikel, der besagt, man wird hinausgeworfen, wenn man die Grundrechte nicht respektiert. Das ist ein echtes Problem.

Wie sehen Sie die Zukunft Europas?
Meine Gene sind optimistisch, mein Intellekt ist pessimistisch. Wenn ich es recht bedenke, sehe ich nicht ganz, wie das Projekt Europa gut gehen kann. Aber ich sehe auch, dass man doch Fortschritte machen könnte und das auch tun wird. Ich empfinde Zuversicht im Pessimismus.

Wie kann man das Bewusstsein in den einzelnen Mitgliedsstaaten für die europäische Idee schärfen?
Zum Beispiel durch den Jugendaustausch – Frankreich und Deutschland machen es seit Jahrzehnten vor. Aber auch in anderen Ländern floriert der Austausch auf verschiedenen Ebenen wunderbar. An den Wurzeln funktioniert Europa, auch wenn es oben bei den politischen Spitzen mitunter hapert.

In Ihrem Buch beziehen Sie sich immer wieder auf den jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas. Was verbindet Sie mit ihm?
Ich denke wie er. Auch er hatte eine interessante Identität. Er wurde als jüdischer Litauer geboren, er war Franzose, und er forderte immer wieder etwas Wesentliches: dass man sich seine Identität nicht auferlegen lassen sollte durch den Finger, der auf einen zeigt, und durch den sich diejenigen, auf die gezeigt wird, einschüchtern lassen – eine Forderung, die leider bis jetzt nicht erfüllt wurde. Wir haben die Zuschreibungen von außen noch nicht überwunden. Lévinas Ethik vom Anderen ist noch nicht in alle Köpfe eingedrungen.

Mit dem französischen Buchautor sprach Katharina Schmidt-Hirschfelder.

Alfred Grosser wurde 1925 in Frankfurt/Main geboren. Der Politikwissenschaftler und Soziologe lehrte am Pariser »Institut d’études politiques«. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs setzt er sich unermüdlich für die deutsch-französischen Beziehungen ein. Er gilt als einer der intellektuellen Wegbereiter des Elysée-Vertrags. Grosser erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, den Theodor-Wolff-Preis und das Bundesverdienstkreuz. Er verfasste mehr als 30 Bücher. 2017 erschien von ihm »Le Mensch. Ethik der Identitäten« (Rowohlt).

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