Perspektive

Leben gegen den Terror

Terrorangst in Frankreich: 10.000 Soldaten sollen »anfällige Punkte« des Landes schützen. Foto: dpa

Was kommt nach dem Terror in Paris? Eine scheinbar banale Frage, auf die es eine ebenso banale Antwort gibt: Wir wissen es nicht. Es sieht immer mehr danach aus, als ob die grundlegenden Prinzipien der Moderne infrage, vielleicht sogar zur Disposition gestellt würden.

Diese Prinzipien beruhen auf dem menschlichen Leben, der Würde und dem Wunsch, ohne Qual und Schmerz leben zu können. Es geht dabei um die Sakralität der Existenz. Es handelt sich hier um die Religion der Humanität, an der alle unabhängig vom Glauben an Gott teilhaben können.

Ähnliches kann man heute auch über die »säkulare« Religion der modernen Moral sagen. Auch diese trägt transzendentale Züge und rückt den Menschen in den Vordergrund. Dabei ist der konkrete Mensch gemeint – nicht die Idee des Menschen. Zu dieser Religion der Humanität gehören heilige Ideale, die auf keinen Fall verletzt werden dürfen. Dass jedermann aussprechen darf, was er von Gott und seiner Regierung hält, ohne gefoltert und ermordet zu werden, gehört natürlich dazu.

Humanist So muss sich der moderne gläubige Humanist auch mit der Frage nach den Grenzen seines Glaubens auseinandersetzen: Bezieht sich die Anerkennung der Freiheit der anderen gleichermaßen auf Despoten wie auf Demokraten, auch auf Verbrecher gegen die Menschheit, die uns jagen und ermorden wollen?

Ein Gedanke, der dem modernen Demokraten besonders fremd ist: dass er, sie, wir, Juden, Christen und Muslime, die die Anerkennung des anderen zum Kern unserer Auffassung von Gesellschaft und Politik machen, nun selbst Gegner erzeugen, die möglicherweise nur mit Gewalt niedergehalten werden können. Woraus folgt: Man muss sich in den Widerspruch hineinbegeben, die eigenen Grundsätze – die Freiheitsrechte zu schützen, Gleichheit und Vielfalt der anderen zu gewährleisten – notfalls zu brechen, um sie zu bewahren.

Wir in Israel wissen das schon lange. Auch in Europa werden die Menschen es lernen. Es geht also um nichts Geringeres – hier in Israel und auch in Europa –, als die Prinzipien der Moderne, wie die Toleranz, nicht der Erosion preiszugeben. Es geht um nichts Geringeres als darum, den viel geschmähten Begriff der Humanität zu erneuern. Das sind die Herausforderungen des Terrors in Israel wie in Europa.

Fremd Und was Juden aus ihrer Geschichte besser wissen als alle anderen: Die Furcht vor dem Fremden hat, wie schon so oft, zu einer erzwungenen Einheitlichkeit geführt. Es ist die Einheitlichkeit der Angst. Verzweifelt klammern sich viele an das Vertraute, im festen Glauben, dass sie allein dort Sicherheit in einer gefährlichen Welt finden. Auch das ist die Herausforderung des Terrors. Juden wissen auch aus eigener Erfahrung, dass es eine alarmierende Anziehungskraft zwischen dem Begriff des Bösen und dem Begriff des Fremden gibt. Die Versuchung ist groß.

Die Rede vom Terror besagt: Es kann zu einem künftigen Anschlag kommen – oder auch nicht. Erwartung und Tat fallen dramatisch auseinander. Jeder, der in Israel lebt, weiß das, fühlt es jeden Tag, wenn die Kinder zur Schule geschickt werden und man unterwegs zur Arbeit ist oder im Café sitzt. Man muss nicht darüber reden. Es ist allgegenwärtig.

Aber dieser Erwartung steht kein Nutzen und kein Trost gegenüber, eher im Gegenteil: Wer – wie viele in Israel – die Erwartung von Terrorattentaten ins Zentrum rückt, stellt sich selbst in den Dienst der Enthemmung der schwarzen Fantasie, die die Sache der Terroristen betreibt.

Aber geht es überhaupt anders? Sicher, Europa könnte von Israel lernen, wie man trotz des Terrors eine offene Gesellschaft bleibt, in der jeder weiterhin sein Leben lebt, in der Meinungs- und Pressefreiheit blühen und in der die Mehrheit mehr oder weniger friedlich mit der Minderheit koexistiert. Aber dennoch lässt sich der Terror nicht einfach wegreden. Nicht in Israel und nicht mehr in Europa.

Terrornetzwerke operieren transnational und individuell, ihre Identität ist schwer auszumachen. Die terroristische Gewalt wird ungezügelter – im wahrsten Sinne des Wortes. Und wie in Israel lebt sie auch in Europa von der Erwartung des nächsten Anschlags.

Gewalt Das heißt aber noch lange nicht, dass Juden in Israel und Europäer nun durch den Terror automatisch zur Schicksalsgemeinschaft würden. Zu unterschiedlich sind die historischen Erfahrungen mit Gewalt. Dadurch wird bestimmt kein größeres Verständnis für Israel erweckt werden. Höchstens unter Juden in Europa. Für sie ist Israel ein Symbol der eigenen Sicherheit.

Ist es zu viel verlangt, sich daran zu erinnern, dass die Negation der Toleranz oder des menschlichen Zusammenlebens ganz generell überhaupt erst deren Bedeutung, deren Heiligkeit ins Blickfeld rückt und auf diese Weise einen neuen Horizont der Verantwortung eröffnet? Vielleicht kann die Terrorgefahr als erfahrene und erwartete Bedrohung der Menschheit auf diese Art und Weise eine Aufklärungsfunktion freisetzen, die Europa und auch Israel erfassen kann. Die lähmende Angst und die nichtlähmenden Konsequenzen dieser Angst müssen hüben und drüben nicht die einzigen Antworten sein.

Der Autor ist Professor für Soziologie in Tel Aviv.

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