Geschichte

Können Nazi-Morde verjähren?

Deutscher Bundestag in Bonn (1968) Foto: dpa

Es war eine Frage, die Politik, Justiz und deutsche Öffentlichkeit Mitte der sechziger Jahre stark bewegte: Dürfen NS-Verbrechen verjähren? Und wenn ja, wann? Vor 50 Jahren, am 26. Juni 1969, hob der Bundestag die Verjährung für Völkermord auf.

Anfangs verjährte Mord nach 20 und Totschlag nach 15 Jahren. Auch für die Straftaten des NS-Terrorregimes wäre also am 8. Mai 1965 – und damit 20 Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation – die Verjährung eingetreten. Doch das empörte viele.

SCHLUSSSTRICH Zwar erklärten laut Meinungsumfragen von 1963 und 1965 knapp über 50 Prozent der Deutschen, dass es gut wäre, »endlich einen Schlussstrich« zu ziehen. 60 Prozent sprachen sich für eine Verjährung der NS-Mordtaten aus. Doch international gab es Protest: Nicht nur Israel übte offen Kritik, sondern auch die USA und die Sowjetunion.

Über 50 Prozent der Deutschen fanden, dass es gut wäre, »endlich einen Schlussstrich« zu ziehen.

Große jüdische Unternehmen in den USA riefen zum Boykott deutscher Waren auf. Die Parlamente Frankreichs, Großbritanniens, Norwegens sowie der Europarat formulieren Protestnoten. 1964 hatte bereits die DDR ein Gesetz zur Nichtverjährung von Kriegs- und Nazi-Verbrechen verabschiedet. Die Bundesrepublik geriet zunehmend unter Druck.

Zwischen 1960 und 1979 befasste sich der Bundestag insgesamt viermal mit der Frage der Strafverfolgung von NS-Mördern. Während sich die SPD mehrheitlich für eine Abschaffung der Verjährung aussprach, lehnte die schwarz-gelbe Regierungskoalition dies weithin ab.

DEBATTE Als eine »Sternstunde des Parlaments« gilt bis heute die Plenardebatte am 10. März 1965. Der CDU-Abgeordnete Ernst Benda gehörte damals zu denen in seiner Fraktion, die eine Verlängerung der Verjährungsfrist forderten. »Das Rechtsgefühl eines Volkes würde korrumpiert, wenn die Morde ungesühnt bleiben müssten, obwohl sie gesühnt werden könnten«, argumentierte der spätere Bundesinnenminister und Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

Auch die Sozialdemokraten wollten die Verjährung mehrheitlich aufheben. Sie sprachen sich darüber hinaus für eine Grundgesetzänderung aus, um diese Neuerung abzusichern. Es gab aber auch abweichende Stimmen: Der SPD-Rechtsexperte Adolf Arndt, selbst Verfolgter im NS-Staat, unterstrich sein prinzipielles Nein zu Sonderstraftatbeständen und Ausnahmebehandlungen. »Auch die Mörder stehen in einem Verfassungsstaat in der Hand des Rechts.«

Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Rainer Barzel (CDU), erteilte einer grundsätzlichen Aufhebung der Verjährung jedoch eine Absage: Eine seriöse Strafverfolgung sei wegen des großen zeitlichen Abstands meist nicht möglich, argumentierte er. Außerdem hätten viele Deutsche angesichts der NS-Vergangenheit »Hemmungen gegenüber dem Problem besonderer Gesetzgebung«. Lediglich eine Hinausschiebung des Beginns der Verjährungsfristen könne er unterstützen.

Große jüdische Unternehmen in den USA riefen wegen der Weigerung eines Verbots zum Boykott deutscher Waren auf.

STRAFRECHT Für die bestehende Verjährungsfrist argumentierte Bundesjustizminister Ewald Bucher (FDP). Man müsse entscheiden, ob man dem »Ruf nach lückenloser Sühne« folgen oder dem »rechtsstaatlichen Satz treu bleiben wolle, wonach jedes rückwirkende Gesetz im Strafrecht von Übel ist«, sagte der FDP-Politiker. Schon jetzt stünden die Gerichte aufgrund fehlender Zeugen und fragmentarischer Datenlage bei NS-Verfahren vor immer unlösbareren Aufgaben. »Wir müssen mit den Mördern leben«, widersprach Bucher Benda.

Am 23. März 1965 beschloss der Bundestag dann zunächst, den Beginn der Verjährungsfrist auf den 1. Januar 1950 hinauszuschieben. Alle Abgeordneten der SPD und 180 der 217 CDU-Abgeordneten votierten für diesen Kompromiss. Die FDP stimmte fast geschlossen für die Beibehaltung der ursprünglichen Verjährungsfrist. Die strafrechtliche Ahndung für NS-Morde war damit bis zum Ende des Jahres 1969 möglich. Bucher trat daraufhin zurück.

Der Kompromiss verschob das Problem jedoch nur: Vier Jahre später debattierte der Bundestag erneut. Am 26. Juni 1969 hob das Parlament die Verjährung für Völkermord vollständig auf und verlängerte sie für Mord um weitere 10 Jahre. Seit 1979 ist in der Bundesrepublik auch Mord von jeglicher Verjährungsfrist ausgenommen. Damit endete ein quälender, sich fast über dreißig Jahre erstreckender Streit.

Umfrage

Studie: Für die meisten muslimischen Schüler ist der Koran wichtiger als deutsche Gesetze

Fast die Hälfte der Befragten will einen islamischen Gottesstaat

 22.04.2024

Vereinte Nationen

»Whitewash«: UNRWA-Prüfbericht vorgelegt

Eine Untersuchung sollte die schweren Vorwürfe gegen das UN-Hilfswerk aufklären - vorab sickerten erste Details durch

von Michael Thaidigsmann  22.04.2024

Berlin

Ausstellung will Leben in Geiselhaft simulieren

In der Fasanenstraße werden in einem Container die Bedingungen der Geiseln in Gaza simuliert

von Pascal Beck  22.04.2024

Rechtsextremismus

»Höckes Sprachgebrauch ist ein klarer Angriff - und erfolgreich«

Der Soziologe Andreas Kemper zu Strategien des AfD-Politikers

von Nils Sandrisser  22.04.2024

Frankreich

Französischer Bürgermeister zeigt Hitlergruß - Rücktrittsforderungen

Die Präfektur Val-de-Marne will die Justiz einschalten

 22.04.2024

Meinung

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Fall Samir

Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Österreich

Vier Deutsche nach Gedenkbesuch bei Hitlers Geburtshaus angezeigt

Die Verdächtigen waren nach Braunau gefahren, um dort weiße Rosen niederzulegen

 22.04.2024

Berlin

Große KZ-Gedenkstätten gegen Schüler-Pflichtbesuche

Die Unionsfraktion hatte sich dafür ausgesprochen

 22.04.2024

Meinung

Erinnert euch an Ägypten

Nur eine Handvoll Mitglieder zählen die Gemeinden in Kairo und Alexandria heute. Jedoch haben die wenigsten Juden ihre Heimat aus religiöser Sehnsucht verlassen – sie wurden gewaltvoll vertrieben

von Mascha Malburg  22.04.2024