Christian Staffa

»Judenhass ist Unglaube«

War 13 Jahre Geschäftsführer von Aktion Sühnezeichen: der evangelische Theologe Christian Staffa (60). Foto: Marco Limberg

Herr Staffa, Sie haben unlängst gesagt, alle Christen müssten Antisemitismusbeauftragte sein, wenn sie die biblische Botschaft richtig interpretieren. Wozu braucht die Evangelische Kirche in Deutschland dann eigentlich Sie?
Weil das leider nicht die gegenwärtige Wirklichkeit ist. Meine Beauftragung ist so gemeint, dass ich mich um die antijüdischen Anteile in unserem eigenen System kümmere und nicht nur zum Fenster hinausrede.

Haben Sie als Antisemitismusbeauftragter der EKD einen Mitarbeiterstab?
Ich arbeite mit der AG Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag zusammen, deren christlicher Vorsitzender ich bin. Alleine könnte man das emotional gar nicht. Zum Glück habe ich auch viele jüdische Partner und Rückhalt bei Kirchenleitungen. Aber ich habe keine Stelle als Antisemitismusbeauftragter, ich mache weiterhin meine Arbeit als Studienleiter bei der Evangelischen Akademie, die auch zu etwa einem Drittel Jüdisch-Christliches und Antisemitismus als Thema hat, und meine Beauftragung durch die Kirche kommt jetzt noch dazu. Ich habe schon bisher nicht wenig gearbeitet, und deshalb hat mir die EKD zusätzlich eine halbe Stelle für Sachbearbeitung bewilligt – ein Sekretariat, das meine Termine koordiniert.

Für welche Zeit sind Sie beauftragt?
Von Ende 2019 bis Ende 2021. Ich wurde von einem amtierenden Rat der Evangelischen Kirche für die Dauer seiner Wahlperiode beauftragt. Aber ich vermute, dass die Beauftragung weitergehen wird.

Wie wurde Ihre Beauftragung von Christen aufgenommen?
Viele schrieben mir auf Facebook, ich sei genau der Richtige. Ich war 13 Jahre Geschäftsführer von Aktion Sühnezeichen und bin ziemlich profiliert in diesem Feld. Ich mache das eigentlich schon seit 30 Jahren. Jetzt gibt es eine Beauftragung, das ist ein wichtiger symbolpolitischer Akt, weil die Evangelische Kirche zeigen wollte, dass sie an der Seite der Jüdinnen und Juden ist. Es gibt sicherlich auch Menschen, die finden, dass eine solche Beauftragung nicht so dringlich ist, aber solche Reaktionen sind bei mir nicht angekommen.

»Jetzt gibt es eine Beauftragung, das ist ein wichtiger symbolpolitischer Akt, weil die Evangelische Kirche zeigen wollte, dass sie an der Seite der Jüdinnen und Juden ist.«

Sehen Sie heute, nach der Ablehnung der Judenmission durch die EKD-Synode im Jahr 2015, noch Probleme zwischen Juden und Christen im theologischen Bereich?
In den vergangenen 40 Jahren ist auf theologischem Gebiet tatsächlich extrem viel passiert. Aber das ist in der gegenwärtigen akademischen Theologie kaum aufgenommen. Ein Beispiel: 2017 hat die Universität Göttingen in Zusammenarbeit mit dem Vorstand der AG Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag eine Untersuchung durchgeführt zum Thema Lehren über das Judentum, christlich-jüdische Lerninhalte in der Pfarrerinnen- und Religionspädagoginnen-Ausbildung. Das Ergebnis war desaströs.

Was heißt das?
Das heißt: Man kann ein erstes theologisches Examen gemacht haben, ohne je in den Talmud geschaut und sich mit der jüdischen Tradition auseinandergesetzt zu haben. Eine bestimmte Generation von Menschen in den Synoden und den leitenden Gremien der Kirche hat wichtige Erkenntnisse formuliert. Aber die EKD-Synode von 2015 hat auch gefordert, dass dieser Umkehrprozess weitergehen muss. Und da ist viel Luft nach oben.

Aber die Ausbildung der Pfarrerinnen und Pfarrer gehört sicherlich nicht zu Ihrem Kerngebiet als Antisemitismusbeauftragter …
Nein, das wäre eine Herkulesaufgabe. Aber die Untersuchung hat ausgelöst, dass sich eine Kommission, der Gemeinsame Ausschuss »Kirche und Judentum«, intensiv mit dem Thema befasst. Ich wiederum würde gerne darauf hinwirken, dass auch Antisemitismus in der Ausbildung unserer Theologinnen und Theologen thematisiert wird.

Sie meinen damit nicht nur klassischen Antijudaismus der Kirche …
Genau. Es sollte Thema sein, wie sich christliche Typologien in den gegenwärtigen säkularen Antisemitismus einschreiben. Wenn ich darüber Vorträge halte, treffe ich tatsächlich immer wieder auf Zuhörer, die mir sagen: Davon habe ich noch nie gehört.

Haben Sie den Eindruck, dass innerhalb der Kirchen antisemitische Einstellungen zugenommen haben – oder dass die Sympathien für die Israel-Boykott-Bewegung BDS stärker geworden sind?
Ich gehöre zu den Menschen, die sagen würden: Auf der Einstellungsebene hat sich der Antisemitismus nicht verstärkt. Dafür sprechen die Zahlen nicht. Aber wenn es um die Ebene der Handlungsform geht, ist deutlich, dass sich antisemitische Angriffe verstärkt haben. Schon vor 30 Jahren war mir klar, dass etwa ein Viertel aller Menschen in Deutschland eine starke Tendenz haben, chauvinistisch-antisemitisch-rassistisch zu denken.

»Im Protestantismus gibt es eine klassische Opfersolidarität. Das ist eher ein Affekt, keine antisemitische Struktur, aber es ist unreflektierte Israelfeindlichkeit.«

Kirchenmitglieder oder Bürger im Allgemeinen?
Wir wissen, dass sich Kirchenmitglieder nicht sehr vom Rest der Gesellschaft unterscheiden. Es liegt etwa in derselben Größenordnung. Aber der israelbezogene Antisemitismus nimmt zu. Und in den pauschalen Verurteilungen Israels versteckt sich ganz viel, was früher »normaler« Antisemitismus war. Die Unterstützer von BDS und des »Kairos-Palästina-Dokuments« sind sehr engagiert. Ich würde sie nicht pauschal als Antisemiten verurteilen, aber es ist eine beunruhigende, potenziell und oft auch real antijüdische Haltung. Im Protestantismus gibt es eine klassische Opfersolidarität. Das ist eher ein Affekt, keine antisemitische Struktur, aber es ist unreflektierte Israelfeindlichkeit, an die wir ranmüssen. Und das ist eines meiner Aufgabengebiete. Es gibt auf der ganzen Welt unterdrückte Christenmenschen. Im Irak sind in den vergangenen zehn Jahren 200.000 Christen einfach verschwunden. Meine Frage ist immer: Warum ist euch dieser sogenannte Nahostkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern so wichtig, warum nicht die anderen Konflikte im Nahen Osten? Und darauf gibt es ganz selten eine sinnvolle Antwort. Oft heißt es: »Wir haben gelernt, dass die Verfolgung von Juden dramatisches Unrecht war. Ab 1967, seit dem Sechstagekrieg, waren andere Opfer der Juden, und gerade wir als Deutsche dürfen nicht schweigen.« Das ist die Linie, die da gezogen wird, und die ist natürlich extrem wenig reflektiert.

Wie argumentieren Sie?
Dass die Israelis nach der Gründung ihres Staats 1948 Opfer eines massiven arabischen Angriffs waren. Natürlich kann man Israels Auftreten als Besatzungsmacht seit 1967 kritisieren, aber allein der Unterschied zwischen besetzen Gebieten und dem israelischen Kernland, wo die Araber gleichberechtigte Staatsbürger sind, spricht doch für sich. Viele palästinensische Bürger Israels würden auf gar keinen Fall gerne in arabischen Nachbarländern wohnen. Aber das wissen die meisten Leute gar nicht. Und es wird auch kaum über die Angriffe der Hamas in Gaza auf Israel gesprochen.

Wie sieht Ihr Alltag aus? Arbeiten Sie vor allem am Schreibtisch?
Ich bin auch sehr viel unterwegs mit Vorträgen und stelle drei neue Broschüren mit Beteiligung der Evangelischen Akademie zu Berlin vor: »Amen? Impulse aus dem jüdisch-christlichen Gespräch für evangelische Gottesdienste«, »Antisemitismus und Protestantismus – Impulse zur Selbstreflexion« und »In Stein gemeißelt – Zum Umgang mit eingefurchtem Antisemitismus«. Und ich betone immer wieder: Antisemitismus ist keine christlich theologische Determinante. Im Gegenteil, wir sind an die Seite der jüdischen Geschwister gestellt. Das Neue Testament ist ein jüdisches Buch. Wir haben so viel Judentum in unserer eigenen Tradition, auch im Gottesdienst. Löst euch von diesem Gegenbild Altes Testament – Neues Testament, Gesetz – Gnade, Rache – Liebe, Gewalt – Gewaltfreiheit. Wir denken viel zu viel in diesem dualen System, und wenn man selbst gut ist, bleibt für den anderen nur das Schlechte. Und ich sage: Antisemitismus ist Unglaube, weil er darauf verweist, dass man Gott nicht vertraut. Wenn ich mich nur darin beweisen kann, dass ich dem anderen beweise, dass er Gott verlassen oder Gott ihn verlassen hat, also diese Luther’sche Argumentation: »Die glauben nicht an Gott, weil sie nicht an Jesus glauben«, dann bin ich sehr unsicher in meinem eigenen Glauben.

»Wenn man selbst gut ist, bleibt für den anderen nur das Schlechte. Antisemitismus ist Unglaube, weil er darauf verweist, dass man Gott nicht vertraut.«

Wie stark ist diese Linie noch bei älteren Gemeindemitgliedern verbreitet?
Der radikale und widerliche Antisemitismus Luthers nicht, aber der theologisch strukturelle Antisemitismus schon. Dieses Motiv »Die Juden sind das Alte, wir sind das Neue, wir haben die Gnade, sie haben das Gesetz« kann man auch in Predigten immer wieder hören. Dazu muss man sagen: Jesus ist Jude, er legt sein Judentum aus, und Paulus genauso. Das ist alles noch innerjüdische Debatte. Das Christentum und das rabbinische Judentum sind Geschwister. Aus der jüdischen Rezeption kann man grandios lernen, wieviel Raum es zwischen den Buchstaben gibt, wie viel Interpretationsspielraum. Ich lese den Beginn der Heiligen Schrift, des Tenach, mit dem Buchstaben Beth, den zwei Schöpfungsberichten als einen Verweis auf das biblische Verständnis von Welt: »Die Wahrheit beginnt mit Zwei«. Das ist zentral. Und das gilt auch für das Christentum.

Zur Tradition des Lutherschen Antisemitismus gehört – auch wenn sie schon älter ist – die als Wittenberger »Judensau« bekannte Schmähplastik. Sie darf vorerst weiter an der Stadtkirche der Lutherstadt bleiben – das Oberlandesgericht in Naumburg hat unlängst eine Berufungsklage abgewiesen. Wie stehen Sie dazu?
Ich befürworte einen »experimentellen Zugang« – das schmähende Relief könnte zunächst zeitweilig verhüllt und das ihm zugeordnete Mahnmal am Fuß der Stadtkirche nachts angestrahlt werden. Im Gedenken an die Abgründe, die sich mit Bildern wie diesem Relief verbinden, kann man kaum etwas richtigmachen. Weitere Möglichkeiten auch mit anderen Kunstwerken könnten probiert und ausgewertet werden, bevor eine vorläufig endgültige Lösung geschaffen wird. Eine juristische Bearbeitung dieser judenfeindlichen Bildsprache ist aus meiner Sicht nicht sinnvoll.

Sind Sie mit dem Zentralrat der Juden über Ihre Arbeit im Gespräch?
Ich habe mich Ende Januar mit Zentralratspräsident Josef Schuster getroffen und mit ihm über meine Arbeit gesprochen. Außerdem bin ich eng mit der Bildungsabteilung des Zentralrats verbunden, der künftigen Jüdischen Akademie.

Wie schaffen Sie es, die jüngere Generation zu erreichen – diejenigen, die die Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit eher für eine Rentnerveranstaltung halten?
Wir als AG Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag haben sehr viel Nachwuchs. Auf christlicher Ebene funktioniert das sehr gut, auf jüdischer Ebene ist aber gerade bei jüngeren Intellektuellen eher der Dialog mit dem Islam interessanter. Viele junge Juden denken offenbar, »Christlich-Jüdisch« ist eher für die Alten, das ist Establishment, zu mainstreamig.

»Viele junge Juden denken offenbar, ›Christlich-Jüdisch‹ ist eher für die Alten, das ist Establishment, zu mainstreamig.«

Vielleicht könnte es auch daran liegen, dass junge Juden im Alltag Antisemitismus eher von muslimischer Seite wahrnehmen, während sie mit »christlichem« Antisemitismus weniger konfrontiert sind?
Meine Erfahrung in Gesprächen ist eher, dass Juden den »normalen« Antisemitismus, zum Beispiel den »Rachegott« in Zeitungsberichten, sehr sensibel wahrnehmen. Das sind alles christliche Motive. Ich glaube sowieso, dass der »muslimische« Antisemitismus nicht das Hauptproblem ist. Die christliche Prägung halte ich für deutlich stärker.

Woran würden Sie den Erfolg Ihrer Arbeit messen?
Das ist schwierig, aber die Broschüren, von denen ich vorhin gesprochen habe, laufen sehr gut. Es sind von zwei Broschüren schon 7000 Stück weg – das heißt, die ganze erste Auflage innerhalb von zwei Monaten. Bei der Ausbildung und in den Evangelischen Akademien steigt die Nachfrage nach gutem, theologisch verantwortlichem Material. Wir wollen auch zertifizierte Fortbildungsmodule ins Netz stellen, auch daran kann man das Interesse messen. Ich will außerdem einen christlich-jüdischen Predigtpreis ausloben.

100 Euro für die beste Predigt?
Oder einen Besuch vom EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm.

Oder eine Israelreise?
Das wäre auch eine Option.

Mit dem Studienleiter an der Evangelischen Akademie zu Berlin und Antisemitismusbeauftragten der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sprach Ayala Goldmann.

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