Ukraine

Jetzt wird’s ernst

Bislang nur als Fernsehstar bekannt: Wolodymyr Selenskyj Foto: Getty Images

Es könnte ein jüdischer Witz sein, und es gibt trotzdem nichts zu lachen: In der Ukraine gewann Ende April ein planloser jüdischer Komiker gegen den amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko die Präsidentschaftswahlen. Poroschenko unterlag mit einem niederschmetternden Ergebnis von 73 zu 25 Prozent.

Das Wahlprogramm des 41-jährigen Wolodymyr Selenskyj zeichnete sich durch eine beachtliche Inhaltslosigkeit aus. Zwar betonte er während des Wahlkampfs, dass er den pro-westlichen Reformkurs der Ukraine unterstütze – konkrete Versprechen, wie er das vorhabe, blieben allerdings aus.

Stattdessen wussten Selenskyj und sein Wahlkampfteam die breite gesellschaftliche Unzufriedenheit mit dem amtierenden Präsidenten zu nutzen. Denn trotz beachtlicher Reformerfolge – allen voran die Einführung visafreien Reisens mit der EU, die Dezentralisierungsreform, die Durchsetzung der ukrainischen Autokephalie sowie die Modernisierung der ukrainischen Armee – hat es Poroschenko nicht geschafft, den Lebensstandard der Bevölkerung merklich zu verbessern, sich glaubhaft für eine Lösung des Konflikts im Osten der Ukraine einzusetzen, und in puncto Korruptionsbekämpfung hatte er eine zweifelhafte Bilanz.

Oligarch Obwohl eine Null-Toleranz-Politik für Korruption eines der wichtigsten Schlagwörter in Selenskyjs Wahlkampf war und er Zivilgesellschaft und Antikorruptionsbehörden seine feste Unterstützung zusicherte, wird er erst beweisen müssen, wie ernst er das meint. Ein Lackmustest wird sein Verhältnis zu dem zwielichtigen Oligarchen Ihor Kolomojskyj sein, dem ehemaligen Gouverneur der Oblast Dnepropetrowsk.

Was die beiden eint, ist nicht nur ihr sowjetisch geprägtes Verständnis von Judentum, das Jüdischsein primär ethnisch statt religiös definiert, sondern auch eine Partnerschaft im Medienbusiness. Selenskyjs Produktionsfirma Kwartal 95 hat einen Vertrag mit Kolomojskyjs Fernsehsender 1+1. Im Wahlkampf hatte Kolomojskyj Selenskyj seine Unterstützung zugesichert – und wohl auch seinen Anwalt Andriy Bohdan als rechtlichen Berater zur Seite gestellt, wie einige Medien berichten.

Außer Israel ist die Ukraine das einzige Land, in dem Präsident und Premier Juden sind.

Dass Selenskyj auf Beratung angewiesen sein wird, steht außer Frage: Die politische Erfahrung des 1978 in der russisch-sprachigen Industriestadt Krywyj Rih geborenen Sohns einer jüdischen Intellektuellenfamilie beschränkt sich auf seine Hauptrolle in der TV-Serie Diener des Volkes. Darin spielt Selenskyj einen Lehrer, der durch ein YouTube-Video in die Rolle des Präsidenten gehievt wird – um es den korrupten Eliten des Landes zu zeigen.

realität Ähnliches erwarten nun auch seine Wähler in der Realität. Selenskyjs postsowjetisch-jüdische Identität spielte dagegen im Wahlkampf kaum eine Rolle – weder für ihn selbst noch für seine politischen Gegner. In Anbetracht der massiven Kampagnen, die die russische Propaganda-Maschinerie führte, um das Gerücht zu verbreiten, dass sich in der Ukraine eine faschistische, rassistische und antisemitische Junta im Jahr 2014 an die Macht geputscht habe, setzte das Desinteresse an seinem Hintergrund ein starkes Zeichen.

Schließlich hatte die russische Führung dieses Narrativ auch vorgeschoben, um im Jahr 2014 zunächst die ukrainische Halbinsel Krim zu annektieren und dann einen bewaffneten Konflikt in der Ostukraine zu entfachen. UN-Schätzungen zufolge hat dieser bislang etwa 13.000 Menschenleben gekostet – knapp ein Viertel davon Zivilisten. Fünf Jahre nach Beginn dieser Kampagnen ist die Ukraine das einzige Land auf der Welt außer Israel, das sowohl einen jüdischen Präsidenten als auch einen jüdischen Premierminister, Wolodymyr Hrojsman, haben wird.

Dass die Ukraine durch dieses Wahlergebnis allerdings noch lange nicht zu einem Hort der Toleranz wird, zeigen andere parallele Entwicklungen.

Dass die Ukraine durch dieses Wahlergebnis allerdings noch lange nicht zu einem Hort der Toleranz wird, zeigen andere parallele Entwicklungen. Im April 2019 erinnerte ein Bericht von Amnesty International daran, dass es für eine andere Minderheit in der Ukraine physisch gefährlich bleibt: die Roma. Amnesty kritisierte, dass mehrere gewalttätige und bisweilen tödliche Angriffe auf Roma durch Rechtsextreme weiterhin ungeklärt blieben.

einfluss Fast zeitgleich warnte die Analystin Katharine Quinn-Judge vom Thinktank International Crisis Group (ICG) davor, den Einfluss rechtsextremer Gruppen in der Ukraine zu unterschätzen.

Zwar würden solche Parteien in Wahlen schlecht abschneiden – mit ihrer patriotischen Rhetorik, der dezidierten Betonung traditioneller Werte, Antikorruptionsforderungen sowie sozialen Aktivitäten würden sie dennoch massiven Einfluss auf gesellschaftliche Diskurse nehmen können – und damit Anknüpfungspunkte bis in die Mitte der Gesellschaft bieten.

In Angesicht dieses Mainstreams wird es interessant werden, wie Selenskyj mit dem erinnerungspolitischen Kurs der Ukraine umgehen wird. Seit 2015 gibt es eine gesetzlich geregelte Heroisierung ukrainischer Nationalisten, konkret der Organisation Ukrainischer Nationalisten und der Ukrainischen Aufstandsarmee, die während des Zweiten Weltkriegs zeitweise mit den Nazis kollaboriert hatten, sich teils sogar am Massenmord an der jüdischen und polnischen Bevölkerung auf dem heutigen Gebiet der Ukraine beteiligt hatten. Zwei Hauptfiguren sind Stepan Bandera und Roman Schuchewytsch.

helden Politisch dürfte es bei diesem Thema für Selenskyj wenig zu holen geben. Am ehesten wird er sich der Position Josef Zissels anschließen, dem Vorsitzenden des jüdischen Dachverbands. Der betonte im Januar, dass er als Jude weder Schuchewytsch noch Bandera als seine persönlichen Helden sehen könne.

Er verstehe allerdings, warum sie Helden für viele seien: »Sie starben für die Unabhängigkeit der Ukraine.« Er unterstelle niemandem, dass sie die Nationalisten wegen der ethnischen Säuberungen oder wegen ihrer Verstrickung in den Mord an Juden bewunderten.

Der Bedarf einer positiven Erinnerung an den nationalen Unabhängigkeitskampf ist da.

Der Bedarf einer positiven Erinnerung an den nationalen Unabhängigkeitskampf ist da. Er soll das Land gegen die russische Aggression einen. Poroschenko hatte massiv auf diese Karte gesetzt. Dass dies nicht genug ist, zeigt sein Wahldebakel.

Ob nun ein jüdischer, muslimischer oder ein buddhistischer Komiker Präsident wird, scheint den Menschen in der Ukraine ziemlich egal zu sein: Sie wählten Selenskyj, weil er mit seinem jungen Alter kein Teil des alten Systems ist. Nun wollen sie, dass er liefert – und werden ihm dabei sicherlich keinen Spaß durchgehen lassen.

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