Fussball

Ist der Bundesliga-Start vertretbar?

Die Bayern-Spieler Lucas Hernández und Kingsley Coman beim Trainning in KLeingruppen am 2. Mai 2020 Foto: imago images/Sven Simon

PROMarcel Reif: Die Sportler sorgen bei den Zuschauern für Ablenkung in der Corona-Krise

Ich glaube, dass Menschen in Krisenzeiten auch etwas Zerstreuung brauchen. Ohne eine gewisse Leichtigkeit funktioniert das Leben auch jetzt einfach nicht. Ich freue mich sehr auf diesen Samstagnachmittag, wenn in der Fußball-Bundesliga endlich wieder gespielt wird.

Geisterspiele sind natürlich nicht dasselbe wie Spiele vor Publikum in einem vollen Stadion. Aber jetzt geht es nicht anders. Wenn die Bundesliga spielen soll, sind Geisterspiele alternativlos, und die Deutsche Fußball Liga (DFL) hat der Politik ein Sicherheitskonzept vorgelegt, das überzeugt hat. Es gibt natürlich dabei ein Restrisiko, aber das gibt es immer im Leben. Das ist eine Frage der Abwägung, die nicht definitiv geklärt werden kann.

»TELEGRAMM« Mir hat der Fußball sehr gefehlt, und er fehlt allen, die Fußball mögen. Es kann nicht immer so weitergehen wie in einem meiner jüdischen Lieblingswitze. Da schickt ein Jude ein Telegramm an seine Frau: »Mach dir schon mal Sorgen, Details folgen.«

So kann man nicht auf Dauer leben, wenn sich immer alles nur um Corona dreht. Ich kann mir nicht von morgens bis abends Sorgen um meinen Job, um meine Familienangehörigen und um mich selbst machen. Ich brauche auch eine Pause von solchen »Telegrammen«, die wir dauernd auf allen Kanälen empfangen.

So kann man nicht auf Dauer leben, wenn sich immer alles nur um Corona dreht. Ich will mich wieder zwei Stunden über Videobeweise ärgern.

Ich will mich wieder zwei Stunden über Videobeweise ärgern und mich echauffieren, um mich danach wieder diszipliniert zu verhalten. Ich gehöre selbst einer Risikogruppe an und habe mich in der Schweiz, wo ich lebe, freiwillig in Quarantäne begeben.

Die Menschen in Deutschland waren bisher faszinierend diszipliniert, sie haben sich an Vorgaben gehalten, bis auf wenige Ausnahmen. Und deshalb gibt es so gute Zahlen in Deutschland – bessere als anderswo, ausreichend gute Zahlen, damit man Lockerungen, die moralisch-ethisch, medizinisch und wissenschaftlich vertretbar sind, auch durchführen kann.

BELOHNUNG Die Menschen müssen belohnt werden – auch, damit sie weiter mitziehen. Ja, wir brauchen Brot und Spiele, denn Fußball ist wirklich die schönste Nebensache der Welt. Und nach einem Fußballnachmittag kann man sich den Herausforderungen der Corona-Krise wieder stellen und ist dazu vielleicht dann besser in der Lage als vorher.

Damit diese innere Bereitschaft, Einschränkungen hinzunehmen, aufrechterhalten wird, braucht es ein bisschen Lebensfreude zwischendurch. Das kann der Fußball leisten, das kann die Kultur leisten. Museen und Zoos öffnen jetzt wieder, und auch Kinder dürfen in Deutschland wieder auf die Spielplätze, und das aus sehr gutem Grund.

Wenn jetzt nicht weitergespielt wird, ist der deutsche Profifußball sehr schnell nicht mehr das, was er einmal war.

Natürlich spielen auch finanzielle Gründe eine Rolle. Fußball ist ein großer Wirtschaftszweig, an dem Zigtausende von Arbeitsplätzen und bedeutende Steuereinnahmen hängen. Wenn jetzt nicht weitergespielt wird, ist der deutsche Profifußball sehr schnell nicht mehr das, was er einmal war.

TESTS Wenn aber eingewendet wird, dass Corona-Tests von Fußballern und Sportbegleitern angeblich auf Kosten der restlichen Bevölkerung gehen, dann möchte ich Folgendes dazu sagen: Dass etwa in Pflegeheimen möglicherweise nicht genug getestet wird, liegt auch am Streit um die Kosten. Aber der Fußball bezahlt die nötigen Tests für die Bundesliga selbst.

Ich verstehe, wenn Menschen das für ein falsches Signal halten, das ist Ansichtssache. Aber man sollte fair bleiben in der Argumentation. Bei Corona wissen weder die Virologen noch die Epidemiologen wirklich genau, was uns in Zukunft bevorsteht. Für mich spricht die Mehrzahl der Argumente dafür, dass wieder Fußball gespielt werden kann.

Es ist richtig, dass es von Fußballern viel verlangt ist, nach einer nur kurzen Vorbereitungsphase auf höchstem Niveau zu spielen. Es gibt Sportärzte, die in dieser Hinsicht Bedenken haben und deshalb für einen Spielbeginn nicht am 16. Mai, sondern eine Woche später plädiert haben.

Andere sagen: Die Sportler haben zu Hause trainiert und sich fit gehalten. Auch darüber kann man diskutieren, es gibt für beide Haltungen gute Gründe. Aber für einen Spielbeginn an diesem Samstag spricht: Je schneller man diese Runde der Bundesliga fertig spielt, desto schneller kann man die europäischen Wettbewerbe abschließen, damit auch in der nächsten Saison wieder Fußball gespielt wird. Das ist ein fußball-internes Argument, aber der Fußball als Berufszweig muss dafür sorgen, dass er seinen Job macht.

VERANTWORTUNG Der Fußball muss aber auch wissen, dass er, wenn er diese Vorreiterrolle übernimmt, eine große Verantwortung hat. Jeder Einzelne, ob Sportler, Trainer, Schiedsrichter, Arzt oder Physiotherapeut, muss dieser Verantwortung gerecht werden, sonst wird dieses sensible Konstrukt sehr schnell kassiert, und dann ist alles wieder vorbei.

Das Konzept der Deutschen Fußball Liga ist minutiös und klar in seinen Handlungsanweisungen. Wenn sich Einzelne an dieses Konzept nicht halten, werden die Skeptiker recht behalten, die sagen, der Fußball sei nicht fähig, seinem Vertrauensvorschuss gerecht zu werden. Dann muss man den Laden wieder dichtmachen. Ich hoffe, dass es nicht dazu kommen wird.

Marcel Reif ist Sportjournalist und Buchautor. Er lebt in Zürich. Zuletzt erschien: »Nachspielzeit. Ein Leben mit dem Fußball«. Von 1999 bis 2016 war er Chefkommentator beim TV-Sender »Sky«.

CONTRAMartin Krauss: »Geisterspiele« geben kein Stück Normalität zurück, sondern gefährden Menschen

Die Deutsche Fußball Liga (DFL) hat die Wiederaufnahme des Spielbetriebs beschlossen, und wenn nicht örtliche Gesundheitsämter ihr Veto einlegen, hören wir an diesem Wochenende wieder: »Tor in München!«, »Elfmeter auf Schalke!«, »Rote Karte in Dortmund!«.

Während Fanorganisationen teils verhaltene Zustimmung, teils klare oder zurückhaltende Ablehnung formulieren, tönen die Profiklubs, die die Bundesliga übertragenden TV-Sender und die Boulevardzeitungen, die mit der Veröffentlichung von Kabinen-Interna Auflage machen: Endlich, darauf hat Deutschland gewartet!

TRAININGSLAGER Ganz gleich, ob es starken gesellschaftlichen Druck wirklich je gab (Meinungsumfragen legen das nicht unbedingt nahe): Der Profifußball läuft wieder. Und damit er nicht zu einem Hotspot wird, dürfen zum einen keine Zuschauer in die Stadien, zum anderen müssen die Fußballer in Quasi-Quarantäne-Trainingslager – zu den Spielorten werden sie mit Bussen gebracht, auch zwischen Wohnung und Platz werden sie abgeschirmt.

Das wird vermutlich über Wochen oder Monate andauern, und Einwände, wie sie etwa die Spielergewerkschaft VdV vorträgt, werden abgeschmettert: Die Profis verdienen genug, da kann man so etwas doch wohl erwarten!

Vor laufender Kamera ein gesundheitliches Risiko einzugehen, soll normal sein?

Aber wie, bitte, passt die Rede, die Spieler sollten sich bei ihrem Gehalt nicht so anstellen, zu der im gleichen Atemzug vorgetragenen Behauptung, den Menschen würde mit der Bundesliga ein Stück Normalität zurückgegeben? Vor laufender Kamera ein gesundheitliches Risiko einzugehen, soll normal sein?

Das passt genauso wenig dazu wie die so gerne bemühte Vorbildfunktion, die Profis gerade für Jugendliche ausüben sollen. Was ist in diesen Tagen, wo es um Social Distancing und um Hygieneregeln geht, daran vorbildlich, in fußballerische Zweikämpfe zu gehen? Und sich womöglich anschließend abzuklatschen oder zu umarmen?

Die Profis würden ja zwei-, dreimal pro Woche getestet, heißt es, damit werde die Gefahr für die Spieler stets überprüft und eine weitere Infektion so weit wie möglich eingeschränkt. Dass hier wie selbstverständlich eine Berufsgruppe gegenüber Supermarktangestellten, Paketzustellern oder Arbeitern in einer Fleischfabrik privilegiert wird, bestreitet man im Profifußball und in den an ihm interessierten Medienhäusern. Extrawurst?

TESTKAPAZITÄT Nein, man binde doch nur 0,4 Prozent der Testkapazität der Bundesrepublik, rechnet die DFL vor. Dass 0,4 Prozent der Deutschen etwa 330.000 Menschen entspricht – und nicht nur etwa den 900 Profis der ersten und zweiten Bundesliga –, wird verschwiegen. Man vertraut auf die Suggestion, dass eine Zahl mit einer Null vor dem Komma sehr niedrig aussieht.

Die Quarantäne-Trainingslager und die vielen Tests gibt es, weil auch die DFL nicht leugnen kann, dass sie die Spieler einem hohen gesundheitlichen Risiko aussetzt. Aus wichtigen Gründen wurde der Spielbetrieb in nahezu allen Ligen der Welt abgebrochen – nur in Ländern wie Belarus oder Nicaragua geht die Fußballmeisterschaft weiter.

Die Quarantäne-Trainingslager, die in den Bundesligen nun eingeführt und mit den hohen Gehältern der Profis gerechtfertigt werden, gelten jedoch nicht nur für die Fußballer und ihre Trainer, sondern auch für Physiotherapeuten, Busfahrer und Zeugwarte, die keine immensen Kickergehälter beziehen. Und nach den bekannt gewordenen Coronafällen bei Dynamo Dresden wird diskutiert, das Regime noch auszuweiten. Warum? Weil der Sport, sagen DFL und Fernsehsender, gerade der Profifußball, für die Menschen so wichtig sei.

INTERAKTION Ja, Fußball ist wichtig, er erfüllt auf allen Ebenen – vom Makkabi-Team in der Kreisliga bis zur ausgelagerten Aktiengesellschaft in der Champions League – bedeutende gesellschaftliche Funktionen. Aber das kann und macht der Fußball, weil er, seit es den modernen Sport gibt, von der Interaktion Athleten–Publikum lebt. Genau dies sind die zwei wichtigsten Komponenten: die Fußballer auf dem Feld, die sich körperlich abrackern, und die Zuschauer auf der Tribüne, die mitwirken, indem sie laut jubeln, schimpfen oder zehn Minuten vor Abpfiff gehen.

Es sind ökonomische Interessen, die vor die Gesundheit der Spieler gesetzt werden.

Daran, dass es Sportler und Zuschauer braucht, um großen Sport zu bieten, hat sich nie etwas geändert. Was sich jedoch verschoben hat, ist die ökonomische Bedeutung: Einnahmen aus verkauften Tickets spielen für Klubs eine immer kleiner werdende Rolle, relevanter sind Gelder, die von Fernsehanstalten gezahlt werden.

Hier setzt leider die Erklärung an, warum – trotz gemeldeter Coronafälle beim 1. FC Köln, beim FC Erzgebirge Aue und zuletzt bei Dynamo Dresden – die DFL, die Profiklubs und die am Livefußball interessierten TV-Sender unbedingt Geisterspiele wollen. Es sind ökonomische Interessen, die vor die Gesundheit der Spieler gesetzt werden.

Der Fußball, den auch ich liebe, ist eine soziale Veranstaltung, die aus Fans und Spielern besteht, die möglichst gesund sind und von denen keine Gefahr ausgehen darf. Die Vorbildfunktion, die der Fußball derzeit wahrnehmen müsste, lautet: Leider müssen auch wir noch warten!

Martin Krauss ist Buchautor und freier Journalist für Sport, Politik und Kultur in Berlin. Derzeit arbeitet er an einer Sozialgeschichte des Sports.

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