Meinung

Plötzlich Israeli

Lorenz S. Beckhardt, Co-Vorsitzender des Verbandes Jüdischer Journalistinnen und Journalisten Foto: Monika Sandel

»Kommen Sie aus Überzeugung oder aus Deutschland?« Die Frage wurde Juden gestellt, die in den 30er-Jahren vor ihren deutschen Landsleuten in den westlichen Teil des britischen Mandatsgebiets flohen. Der östliche Teil Palästinas, zwei Drittel des Mandatsgebiets, war damals bereits als Emirat der arabischen Bevölkerung übergeben worden. Heute ist es das Königreich Jordanien.

Die Frage, die den Jeckes, den Einwanderern aus Deutschland, damals sinngemäß von vielen Zionisten gestellt wurde, ist verbrieft. Mein Großonkel Gad, damals noch Günther, der sich im Februar 1939 auf den Weg von Recklinghausen nach Haifa machte, musste sie schon vor der Abreise seinem Schwager Bernd beantworten.

Bernd, ein glühender Zionist und Heißsporn, hielt Vorträge in der Hachschara über die glückliche Zukunft, die dem Volk Israel bevorstünde. Günther grätschte dazwischen, Bernd solle nicht so tun, als ob die Juden freiwillig auswanderten. »Deutschland ist unsere Heimat«, sagte Günther, er und viele andere verließen das Land nur unter Zwang.

1932 gehörten weniger als zwei Prozent einer zionistischen Organisation an

1932 gehörten weniger als zwei Prozent der deutschen Juden einer zionistischen Organisation an. Erst durch den antisemitischen Terror der Nazis gewann die Idee, ein sogenanntes Volk Israel brauche zum Überleben einen eigenen Staat, an Überzeugungskraft. Folglich misstrauten die aus zionistischer Überzeugung in den 30er-Jahren nach Eretz Israel gereisten, ebenso wie die bereits seit Jahrtausenden dort lebenden Juden den deutschen Neuankömmlingen.

Zu Unrecht übrigens. Gad kämpfte 1948 im Unabhängigkeitskrieg, seine Schwiegersöhne im Jom-Kippur-Krieg, seine Enkel gegen die Hisbollah, seine Urenkel heute gegen die Hamas.

Dass Günther sich wehrte, Gad zu werden, weil er die deutsche Heimat nicht freiwillig hergeben wollte, war vor 1933 die Haltung fast aller Juden in Deutschland. Mein Großvater Fritz, der preußische Vorname war Programm, hochdekorierter Kampfflieger im Ersten Weltkrieg, Vorstand des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten, erzählte jedem, egal, ob er es hören wollte, dass er nach seiner Hochzeit nie wieder eine Synagoge betreten habe. Erst die Nazis machten ihn zum Juden, als sie sein Geschäft boykottierten, ihn ins Konzentrationslager Buchenwald sperrten.

Mein Vater schließlich, der 1939 als Knabe geflohen war, kam 1950 als Sozialist und Agnostiker nach Deutschland zurück und wurde durch den Frontalzusammenstoß mit der Mehrheitsgesellschaft, die ihn nicht wiederaufnehmen wollte, zum Juden.

Ich reise jeden Tag aufs Neue in Gedanken zu meiner Familie.

Erkennen Sie das Muster? Mich hat es auch erwischt, sogar noch krasser. Jude bin ich schon lange, aber seit dem 7. Oktober 2023 bin ich Israeli, reise jeden Tag aufs Neue mit dem Herzen und in Gedanken zu Gads Familie. Zur Familie seiner Schwester, meiner Großtante Ruth. Zu meiner Familie.

Ich wollte das nie. Wenn Freunde, die vor Jahrzehnten Alija machten, mich von der Unmöglichkeit, als Jude in Deutschland glücklich zu werden, überzeugen wollten, habe ich mich mit Händen und Füßen gewehrt. Da waren die deutsche Sprache, mein Handwerkszeug, die Literatur, die Musik, Heine und Heym, Beethoven und Brings, der Karneval, das bayerische Helle und der Riesling, die Berge und der Wald, das Licht, das im Sommer durch die Kronen der Buchen fällt, der Wechsel der Jahreszeiten und meine Liebe zu Eintracht Frankfurt.

Heute begreife ich, dass ich wie ein Geisteskranker gewirkt haben muss, wie ein Alkoholiker, der täglichen Weingenuss für eine kulturelle Errungenschaft hält. Dabei war ich einfach nur besoffen.

Millionen Deutsche standen hinter Gardinen und sahen dem Morden zu

Im Januar 1942 wurden Gads und Ruths Eltern, meine Urgroßeltern Paula und Rudolf, zusammen mit 500 Juden von Recklinghausen nach Riga deportiert und kurz nach ihrer Ankunft erschossen. Im September 1942 wurden Fritz’ Schwiegereltern, meine Urgroßeltern Emil und Hannchen, zusammen mit 370 meist älteren Juden am helllichten Tag durch die Straßen von Wiesbaden geführt, deportiert, ermordet. Millionen Deutsche standen hinter Gardinen und sahen zu.

Heute stehen ihre Enkel und Urenkel wieder dort und schauen auf die Straße, auf der Gads und Ruths Kinder, Enkel und Urenkel als »Kindermörder« tituliert werden, ihr Überlebenskampf als »Genozid« verunglimpft, die Demokratie, die Ruth und Gad einst aus Europa mitgebracht hatten, als »Apartheid« denunziert.

Emil und Hannchen hatte man einen »gesicherten Lebensabend« im »Altersghetto Theresienstadt« versprochen. Glaubten sie wirklich daran? Ich vermute, sie klammerten sich an den Gedanken, so wie wir uns heute an den Glauben klammern, in Deutschland sei »kein Platz für Judenhass«, und Israels Sicherheit sei »Staatsräson«.

Brüder und Schwestern, lassen wir uns nicht das Hirn vernebeln!
Nein. Ich werde morgen keine Alija machen. Ich bin noch nicht fertig mit diesem Land. Noch hänge ich an meiner deutschen Heimat wie ein Weingourmet an der Flasche. Am 6. Oktober 2023 habe ich zum letzten Mal einen unbeschwerten Schluck genommen. Tags darauf bin ich besoffen vom Balkon gestürzt und hätte mir fast den Hals gebrochen. Ein blau-weißes Sprungtuch mit Davidstern hat mich gerettet.

Der Autor ist Redakteur beim WDR. 2014 erschien sein Buch »Der Jude mit dem Hakenkreuz. Meine deutsche Familie«.

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