Gerhard Conrad

»Irans Angriff war ebenso präzedenzlos wie erfolglos«

Gerhard Conrad handelte mit Geiselabkommen zwischen Israel und Hisbollah und Hamas aus Foto: IMAGO/Jürgen Heinrich

Herr Conrad, aus Verhandlungskreisen verlautet, viele Geiseln der Hamas seien gar nicht mehr am Leben. Was ist davon zu halten?
Das zynische Spiel mit Zahlen und Schicksalen gehört zum Verhandlungsstil terroristischer Vereinigungen. Man will sich alles, aber auch alles »abkaufen« lassen, so eben auch eine Liste mit Namen und Schicksalen, die ja wohl seit langem im Rahmen der Verhandlungskontakte eingefordert und nicht geliefert wird. Mit dem jüngsten Gegenvorschlag hat Hamas die »Bestandsaufnahme« freizulassender Geiseln vollends zu einem Verhandlungsgegenstand gemacht, für den es einen erheblichen Preis zu entrichten gelte: In der ersten Phase einer Waffenruhe werde man erst einmal alle noch verbliebenen Geiseln lokalisieren und zusammenführen.

Ist also alles nur Verhandlungstaktik?
Das ist schwer zu sagen von außen. Man kann leider nach sechs Monaten und angesichts der Krieges in Gaza nicht ausschließen, dass das auch einen realen Hintergrund hat. Wir dürfen nicht vergessen, dass nicht nur die Hamas, sondern auch andere Terrorgruppen und sogar Einzelpersonen am 7. Oktober Geiseln genommen und nach Gaza verbracht haben. Da wurden offenbar Menschen wie »Mitbringsel« verschleppt und später an die Hamas verkauft – oder eben auch nicht.

Warum weiß man immer noch nichts Genaues?
Das liegt auch daran, dass die massiven kriegerischen Auseinandersetzungen in Gaza die Kommunikation und Abstimmung zwischen den einzelnen Akteuren erheblich erschwert haben dürften.

Wie viele Geiseln sind mutmaßlich überhaupt noch am Leben?
Das ist für alle schwer zu sagen. Die israelische Armee geht meines Wissens von weniger als 100 Personen aus. Und es dauerte ja recht lange, bis auf israelischer Seite eine konsolidierte Zahl an Geiseln etabliert werden konnte. Man musste erst einmal schauen, wer alles umgekommen, und wer verschleppt worden war. Mögliche Täter und deren Zugehörigkeit zu Hamas oder anderen Gruppen konnten in dieser Phase nur im Ausnahmefall ermittelt werden.

Halten Sie Berichte für glaubwürdig, dass Geiseln in Privatwohnungen gefangen gehalten werden?
Ja. Im Grunde ist das einfach zu erklären. Nach dem Grenzdurchbruch der Hamas und des Palästinensischen Islamischen Dschihad am 7. Oktober war die Grenze ja an vielen Stellen mehr als 24 Stunden lang offen. Viele haben das genutzt, sind in die Kibbuzim eingedrungen. Die haben nicht nur die Kühlschränke mitgenommen, sondern auch Menschen. Diese Leute wollen als »Privatpersonen« natürlich nicht als Geiselnehmer in Erscheinung treten oder gar mit Israel verhandeln. Sie können das auch gar nicht. Sie können aber versuchen, die Geiseln der Hamas zu übergeben, im Gegenzug für Geld oder andere Vorteile. So merkantil sind die Verhältnisse dort.

Ist das nicht längst geschehen?
Unter den freigelassenen Geiseln der ersten Geiseldeals im Herbst, die von Hamas ausgehandelt worden waren, waren einige, die von Privatpersonen in Wohnungen festgehalten wurden, zum Teil als Arbeitssklaven. Und bei dieser Gruppe ist die Gefahr hoch, dass sie im Rahmen der Kampfhandlungen entweder umkommen oder – zum Beispiel, weil sie den Entführern zur Last fielen – schlicht und einfach umgebracht wurden. Außerdem darf man nicht vergessen, was sechs Monate Geiselhaft für Kranke und Alte bedeutet. Es gibt im Gazastreifen ja seit langem keine konsolidierten Verhältnisse mehr.

Mit anderen Worten: Die meisten verbliebenen Geiseln sind wahrscheinlich tot.
Ohne eine halbwegs gesicherte Informationsgrundlage wäre das ebenso pessimistisch wie spekulativ. Das einzige, was man sicher sagen kann, ist, dass die Hamas-Führung transportfähige, relevante Geiseln in ausreichender Zahl mit sich führen dürfte. Denn die sind deren Lebensversicherung. Das dürften so zwischen 30 und 70 Menschen sein, mehr wahrscheinlich nicht.

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Können Sie sich vorstellen, dass die Hamas sich wie der klassische Geiselnehmer beim Banküberfall verhält und die Geiseln im Gegenzug für freies Geleit freilassen wird?
Wenn sie in äußerster Bedrängnis ist, und die israelische Armee sozusagen vor der Haustüre steht, wohl ja. Aber im Augenblick befindet sich die Hamas-Führung in Gaza noch in einer relativ sicheren Position. Sie haben zwar viel verloren. Aber niemand weiß, wo in Rafah sie sich zusammen mit den Geiseln verschanzen. Die Geiseln sind die Lebensversicherung der Hamas, gemeinsam mit den vielen Palästinensern, die überirdisch zusammengepfercht in Rafah sitzen. Ein Ausdruck dieser Selbstsicherheit sind auch die jüngsten Hamas-Forderungen, die als Reaktion auf das letzte Angebot der US-Vermittlung gestellt worden sind. Würden diese umgesetzt, könnte Hamas als relevante Macht in Gaza zurückkehren und sich die von ihnen selbst herbeigeführten Zerstörungen kompensieren lassen.

Handelte 2004 und 2011 Deals mit zwischen Hisbollah und Hamas einerseits und Israel andererseits aus: Gerhard ConradFoto: IMAGO/teutopress

Mit anderen Worten, die Hamas und die Geiseln sitzen in Rafah?
Alles andere würde mich sehr wundern. Hielten sich die Hamas-Führer außerhalb dieses Bereichs auf, könnte ihnen jederzeit das passieren, was auch ihrer militärischen Nummer Drei, Marwan Issa, passiert ist. Er wurde von der IDF erfolgreich lokalisiert und mit einem Luftangriff getötet. Natürlich könnte es sein, dass sie irgendwo einen geheimen Bunker haben, theoretisch auch in Gaza-Stadt. Aber vergessen Sie nicht: Solche Bunker müssen auch versorgt werden, und das ist schwer. Rafah ist die Grenzstadt zu Ägypten, dort gibt es Optionen in Sachen und Logistik und Kommunikation mit dem Ausland. Deswegen spricht vieles dafür, dass die Hamas-Spitze irgendwo in Rafah ist. Der Ort ist groß genug, um Menschen zu verstecken. Alles andere wäre zwar nicht unmöglich, aber eher weniger unwahrscheinlich.

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Sie waren Unterhändler für Geiselfragen, haben mit Hisbollah und Hamas verhandelt. Wie wirkt sich Ihrer Ansicht nach öffentlicher Druck, beispielsweise Druck seitens der Bevölkerung in Israel auf die Netanjahu-Regierung, auf die Gespräche am Verhandlungstisch aus?
Das hat schon einen Einfluss, wenn auch nicht unbedingt den gewünschten. Bei der Hamas hofft man genau darauf. Wenn die israelische Regierung unter dem Druck der eigenen öffentlichen Meinung steht, dann treibt das den Preis für die Geiseln hoch. Die Hamas ist da an Hartherzigkeit nicht zu überbieten. Je mehr die Angehörigen der Geiseln verzweifeln, desto besser für sie.

Haben Sie das damals gespürt, als Sie 2011 mit der Hamas über die Freilassung des israelischen Soldaten Gilad Shalit verhandelten?
Absolut. Wobei ich sagen muss, dass die Familie von Gilad Shalit den Spagat zwischen den eigenen, übrigens völlig berechtigten Interessen einerseits und der Verpflichtung gegenüber dem Staat Israel andererseits sehr eindrucksvoll gemeistert hat. Aber natürlich war da der Aspekt, dass man immer die eigene Regierung vorführt und ihr offen sagt: »Entweder seid ihr zu schwach, die Geiseln zu befreien, oder ihr bemüht euch nicht ausreichend darum.« Es demonstriert in den Augen von Hamas nun einmal Schwäche, wenn 20.000 Menschen vor der Knesset stehen, um gegen Netanjahu zu protestieren. Die klopfen sich dann auf die Schenkel und sagen: »Macht nur weiter so!« Joe Biden hat sich leider auch öffentlich dazu eingelassen – nicht aus strategischen, sondern aus innenpolitischen Erwägungen heraus. Das kann man zwar politisch nachvollziehen, hilfreich ist es aber nicht.

Sie plädieren also, dass sich alle mit öffentlichen Kommentaren zurückhalten?
Ja. Dass sollte man in jeder Geisellage tun. Verbale und nonverbale Kommunikation durch konkludentes Handeln ist in solchen Situationen die hohe Kunst.

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Die Zeit läuft ab, die Geiseln leiden, viele von ihnen sterben. Wie lange kann das noch so weitergehen?
Wäre der Geiselnehmer allein und hätte die Polizei die Chance, ihn von den Geiseln zu trennen oder zu einer unüberlegten Handlung zu bewegen, wäre die Sache einfacher zu lösen. Hier haben wir es aber mit einer Geiselnahme im Großformat zu tun. Die operativen Möglichkeiten, sie befriedigend zu beenden, sind begrenzt.

Könnte ein militärischer Sieg Israels über die Hamas die Freilassung der Geiseln beschleunigen? Oder wäre er nicht eher eine Gefahr für sie?
Das wissen wir nicht. Ein Verhandler würde versuchen, den Geiselnehmer in eine Situation bringen, in der er entweder aufgibt, ohne die Geiseln zu töten, oder sie im Gegenzug für freies Geleit freilässt. Doch wie würde sich die Hamas-Führung in so einem Fall verhalten?

Würde sie, wenn es hart auf hart kommt, bereit sein, den Märtyrertod sterben und die verbliebenen Geiseln umbringen?
Ich bin kein Hellseher. Möglich ist es. Aber eines ist auch klar: Einstellungen ändern sich, vom Negativen zum Positiven und umgekehrt. Wenn einer heute sagt, er sei bereit zu sterben, wissen wir nicht, ob es so ist, wenn der Moment gekommen ist. Auch das Gegenteil ist möglich, nämlich die psychische Reduktion der Handlungsoptionen auf null, auf den »Heldentod«.

Der Hamas-Chef Ismail Haniya hat kürzlich bei einem israelischen Angriff drei Söhne und mehrere Enkelkinder verloren. Kümmert ihn das alles nicht?
Er hat insgesamt 13 Kinder und, zynisch gesagt, empfindet er das wahrscheinlich als bedauerlichen, aber im Interesse der »Sache« hinnehmbaren, wenn nicht sogar zu begrüßenden Verlust. Man präsentiert sich dann eben »in stolzer Trauer«. Um es klar zu sagen: Ein Menschenleben ist dort erklärtermaßen nicht so viel wert wie bei uns. Märtyrertum ist bekanntlich statusbegründend für die Angehörigen.  

Wie bewerten Sie die Militäroperation Israels in den letzten sechs Monaten im Hinblick auf die Befreiung der Geiseln?
Wäre es Israel nur um die Geiseln gegangen, hätten sie diesen Krieg so nicht führen dürfen. Denn die kriegsbedingten Zustände erschweren eine wirksame Nachsuche ebenso wie Gespräche mit den Geiselnehmern. Wir müssen uns auch fragen, was eine realistische Alternative zu der meines Erachtens adäquaten militärischen Reaktion auf den beispiellosen Überfall von Hamas hätte sein können. Wir dürfen nicht vergessen: Die ersten Tage nach dem 7. Oktober galten der Befreiung des eigenen Territoriums. Es musste ja erst wieder freigekämpft werden. Dann galt es, die Hamas als militärischen und terroristischen Kriegsgegner zu bekämpfen, ihr die Möglichkeit für vergleichbare Angriffe zu nehmen. Israel geht auch deswegen militärisch gegen Hamas vor, um diese zur Freigabe von Geiseln zu zwingen. Das hat bekanntlich in einer ersten Phase im Austausch gegen eine temporäre Feuerpause auch funktioniert.

War die IDF erfolgreich? Es gibt große internationale Kritik an Israel, bis hin zum Vorwurf des Genozids.
Rein militärisch gesehen war die IDF sehr erfolgreich in der Zerstörung von militärischer und terroristischer Infrastruktur der Hamas und auch in der Gefangennahme und Tötung zahlreicher ihrer operativen Kräfte. Das wurde jedoch mit einem hohen Preis für die Zivilbevölkerung bezahlt. Der Vorwurf des Genozids ist ein leider beliebtes Mittel des sogenannten »Lawfare« oder auch der »Information warfare«. Die IDF könnte die militärischen Erfolge auch fortsetzen, wenn man sie weiterkämpfen ließe. Aber dann hätten wir ein Riesenproblem in Rafah. Die Option, dort anzugreifen, bleibt weiterhin auf dem Tisch, obwohl natürlich viele sagen, »Don’t even think about it«.

Welche Optionen hat Israel?
Ich könnte mir auch andere Szenarien vorstellen, zum Beispiel Antiterroreinsätze mittels bewaffneter Spähtrupps und mit Unterstützung aus der Luft, also mit Bombardierung markierter Ziele, was ebenfalls die militärischen Kapazitäten von Hamas weiter schwächen würde. Das hätte aus israelischer Sicht den Vorteil, dass man Soldaten aus Gaza abziehen könnte und nicht so viele von ihnen in Gefahr brächte. Soweit erkennbar, verfolgt die IDF diese Taktik ja auch in den vergangenen Wochen. Ein direkter Zugriff auf die Führung von Hamas und die verbliebenen Kernkräfte wird so allerdings nicht so ohne weiteres gelingen.

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Einerseits ist Berichten zufolge bereits viel in Gaza zerstört. Anderseits hat die israelische Armee noch nicht die Kontrolle über das Gebiet. Wie kann das sein?
Rein militärisch ist die Lage weitgehend unter Kontrolle: Nennenswerter Raketenbeschuss geht von den Regionen nördlich von Rafah nicht mehr aus. Aber es gibt keine Kontrolle im Sinne eines »Policing«. Dafür ist die IDF schon von der Zahl der eingesetzten und einsetzbaren Soldaten kaum in der Lage. Um ein solches Gebiet halten zu können, muss man eine flächendeckende Kontrolle ausüben. Die IDF ist dazu da, einen Raum freizukämpfen. Das macht sie sehr effektiv. Danach eine funktionierende Verwaltung aufzubauen, eine Art von Militärregierung im Gazastreifen, ist für die IDF weder möglich noch wird es angesichts der damit verbundenen Risiken für die Soldaten angestrebt.

Was dazu führt, dass viele Hilfslieferungen von Hamas-Kräften gestohlen werden...
Ja. Es nützt ja nichts, nur LKW über die Grenze zu schicken und zu sagen, »Schaut selber zu, wie ihr zu Potte kommt.« Es braucht eine Auffangorganisation vor Ort, die eine effektive Verteilung ermöglicht. Und die gibt es momentan offenbar nicht oder nur sehr unzureichend.

Wie bewerten sie den Vorwurf, Israel lasse nicht genug humanitäre Hilfe nach Gaza?
Bei solchen Behauptungen bin ich inzwischen eher skeptisch. Zweifellos existieren im Gazastreifen vielerorts verzweifelte Zustände und daraus folgend ein erheblicher Handlungsbedarf. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass aufgrund der kriegsbedingten Zerstörungen die Selbstversorgung weitgehend zusammengebrochen sein dürfte. Aber wie weitverbreitet das Elend ist, wissen wir Außenstehende nicht. Es gibt keine unabhängigen, umfassend recherchierten und belegten Berichte. Das ist auch bei den Opferzahlen der Fall, wie es sich in jüngster Zeit noch einmal gezeigt hat.

Warum ist das so?
Wie stets im Krieg sucht sich im Zweifel jeder seine Teilrealität, extrapoliert sie und lügt fröhlich vor sich hin. Nicht umsonst sagt man ja, dass das erste Opfer im Krieg die Wahrheit sei. Das ist auch bei den materiellen Zerstörungen so: Ich hätte gerne mal eine von Profis erstellte Kartografie, die etwas darüber aussagt, was genau zerstört, also völlig unbrauchbar, ist und was noch nutzbar beziehungsweise reparabel ist. Dass es furchtbare Zerstörungen gegeben hat in Gaza ist ganz offensichtlich, und das darf man nicht wegreden. Aber es ist sicher auch keine Atombombe auf das Gebiet abgeworfen worden.

Das Bombardement eines (angeblichen) iranischen Konsulatsgebäudes in Damaskus hat am Wochenende einen Drohnen- und Raketenangriff der Islamischen Republik auf Israel ausgelöst. Bringen solche Luftschläge gegen Kommandeure der Revolutionsgarden (IRGC) etwas?
Der Angriff auf das Objekt der IRGC in Damaskus war rein militärisch gesehen ja durchaus erfolgreich. Es wurden gleich mehrere ranghohe iranische Kommandeure ausgeschaltet. Sie waren zuvor maßgeblich für die Ertüchtigung der Hisbollah und die gegen Israel gerichteten Planungen verantwortlich. Man sagt zwar gern, solche Leute seien ersetzbar. Aber der Nachwuchs muss erst einmal wieder die Kompetenz der Vorgänger erreichen. Das heißt, dieser Luftschlag hat der betroffenen Seite zumindest vorübergehend wertvolle operative Kapazitäten genommen und war ein schwerer Verlust.

Aber war er mit seinen Folgen nicht ein Fehler?
Der iranische Luftangriff auf Israel war ebenso präzedenzlos wie - aufgrund der komplexen alliierten Luftverteidigung - erfolglos. Gleichwohl stellt er eine neue militärische Realität in Irans Konflikt mit Israel dar. Der wurde bisher nämlich über Proxies geführt. Auf diese neue Situation gilt es sich nunmehr einzustellen.

Wäre Israel denn auf eine militärische Auseinandersetzung an mehreren Fronten vorbereitet?
Ich glaube nach wie vor nicht, dass die iranische Führung ein Interesse hat, das Land in einen großen Krieg mit Israel hineinzuführen. Die Aussicht, dass man es dann mit schweren und wirkungsvollen Bombardements zu tun bekäme, ist nämlich real. Die iranische Luftabwehr und die Raketenabwehr sind, soweit das von außen beurteilt werden kann, eher schwach. Die Schädigungsrisiken sind also erheblich.

Aber wie würden Israels Verbündete reagieren?
Die USA wie auch andere Partner würden sich notfalls an die Seite Israels stehen. Das haben sie am Wochenende eindrucksvoll getan. Zumindest würden sie das israelische Territorium gegen Angriffe aus dem Iran abschirmen. Auch im Fall, dass Teheran einzelne Erfolge erzielen und Israel schmerzlich treffen würde, was bei andauernden massiven Angriffen nicht ausgeschlossen werden kann, wären die Schäden und Verluste auf der iranischen Seite ungleich schwerwiegender. Das wiederum würde die Stabilität des Regimes und seine Behauptungsfähigkeit gegenüber der iranischen Bevölkerung erheblich belasten. Die hat sich zunehmend vom System und seinen Repräsentanten abgewandt.

Sie spielen auf die Proteste gegen das Regime nach dem Tod von Mahsa Amini an?
Ja. Und es brodelt weiterhin unter der Oberfläche. Was wir momentan sehen, ist so eine Art Friedhofsruhe.

Vergangene Woche urteilte ein Gericht in Argentinien, dass der Iran die Terroranschläge auf das jüdische Gemeindezentrum AMIA in Buenos Aires in Auftrag gegeben hatte.
Das wissen wir schon seit mehr als 30 Jahren. Es wurde nun noch einmal höchstrichterlich bestätigt. Und es ist ja auch beileibe nicht der einzige Fall. Schon 1997 stellte das Kammergericht in Berlin fest, dass der Iran immer wieder Staatsterrorismus par excellence betreibt und dass der damalige Staatspräsident Rafsandschani persönlich das Attentat auf das Mykonos-Restaurant 1992 angeordnet habe. Das Ergebnis war, dass die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und der Islamischen Republik vorübergehend zusammenbrachen. 

Aber warum setzt die EU die Islamische Revolutionsgarde nicht auf ihre Terrorliste? Haben Sie das Gefühl, es gibt da diplomatische Rücksichtnahmen?
Ich kenne mich mit der aktuellen Motivlage unserer Politiker nicht zuverlässig aus. Aber es hat den Anschein, dass man weiterhin hofft, dass sich der Iran im Gegenzug mit Schädigungshandlungen zurückhält. Man könnte darauf spekulieren, dass auch der Iran Erwägungen anstellt, ob seine Aktionen den eigenen Interessen schadeten. Würde es sich mithin »lohnen«, eigene Oppositionsvertreter im Ausland umbringen zu lassen, wenn dies entsprechend nachgewiesen werden könnte? Könnte man sich das leisten? Im Einzelfall mag die Antwort dann Ja lauten. Im Falle Israels weiß der Iran allerdings, dass Anschlägen oder einem militärischen Schlag gegen Israel mit größter Wahrscheinlichkeit ein Gegenschlag folgen wird. Und man darf nicht vergessen: Der Iran ist innenpolitisch nicht konsolidiert.

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Müsste der europäische Druck auf das Regime nicht verstärkt werden?
Man sollte nicht vergessen, dass auch der massive Druck auf den Iran und die Sanktionen in der Ära von Donald Trump nicht viel genützt haben, von der Verschärfung der wirtschaftlichen Lage vieler Iraner einmal abgesehen. Mittlerweile hat der Iran mit China ein sicherheitspolitisches Hinterland. Und er hat mit Russland einen militärischen Verbündeten. Beides sollte in seiner Bestandskraft und Bedeutung nicht überbewertet werden. Aber wie sagt man im Englischen so schön? Every little helps.

Kann unter diesen Umständen eine Zweistaatenlösung funktionieren und den Konflikt zumindest befrieden?
Vielleicht in 100 Jahren… Die Kernprobleme sind Friedensfähigkeit und Kompromissfähigkeit. Der Nahostkonflikt ist in den letzten 30 Jahren in seiner Substanz der gleiche geblieben. Es sind dieselben Probleme auf allen Seiten. Auch Israel selbst hat ein Siedlerproblem. Nach Oslo Anfang der 90er Jahre gab es eine gewisse Chance. Und die wurde wohl von allen Seiten vermasselt.

Mit dem früheren BND-Agenten und Nahostexperten sprach Michael Thaidigsmann.

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