Dokumentation

»Ich danke Ihnen, Inge«

Mickey Levy beim Holocaust-Gedenken im Bundestag am 27. Januar Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Zutiefst bewegt und voller Demut stehe ich heute, am Internationalen Holocaust-Gedenktag, vor Ihnen, am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, stolz, den einzigen jüdisch-demokratischen Staat der Welt, den Staat Israel, zu vertreten als Präsident der Knesset, des israelischen Parlaments, dem pulsierenden Herzen der israelischen Demokratie.

Zu Beginn meiner Ausführungen möchte ich Ihnen, Frau Bundestagspräsidentin Bas, für die Einladung danken, heute an dieser Gedenkzeremonie teilhaben zu dürfen, die am Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, am universellen Gedenktag, an die schrecklichsten Ereignisse der Menschheitsgeschichte erinnert.

Demokratie Ausgerechnet hier, in diesem historischen Gebäude, dem deutschen Parlament, kann man – zumindest ansatzweise – die Fähigkeit von Menschen begreifen, die Demokratie mit ihren eigenen Mitteln zu zerschlagen. An diesem Ort hat die Menschheit die Grenzen des Bösen ausgedehnt – ein Ort des Werteverlusts, an dem der demokratische Rahmen zu rassistischer Tyrannei verfiel. Deshalb lernen wir ausgerechnet hier von Neuem innerhalb der Mauern dieses Hauses, die wie stille steinerne, stählerne Zeugen dastehen, wie fragil Demokratie doch ist. Abermals werden wir in die Pflicht genommen, sie um jeden Preis zu verteidigen.

Beim Gedenken an den Holocaust geht es oft um große Zahlen, um unfassbare Statistiken. Lässt sich eine Zahl wie sechs Millionen überhaupt vermitteln?

Verehrte Damen und Herren, das Angedenken an den Holocaust wachzuhalten, ist eine schwerwiegende Aufgabe – eine Aufgabe, die auf den Schultern jeder Generation liegt, die die Vermittlung der abscheulichen Ereignisse der Vergangenheit an kommende Generationen weiterreicht.

Beim Gedenken an den Holocaust geht es oft um große Zahlen, um unfassbare Statistiken. Lässt sich eine Zahl wie sechs Millionen überhaupt vermitteln? Das Gesetz der großen Zahlen bringt eine weitere Ebene und eine gewisse Distanz mit sich, die sich an den Opfern und Holocaust-Überlebenden versündigt, weil es das Maß ihrer Menschlichkeit weiter reduziert. Die sechs Millionen Juden, die ermordet wurden, sind auch sechs Millionen Geschichten – Geschichten von Leben, die hätten sein können, Geschichten derer, die nicht mehr sind.

Hochachtung Ich bin voller Hochachtung für Sie, Frau Inge Auerbacher. Mit der Beschreibung und Darstellung Ihrer Erinnerungen an den Holocaust haben Sie eine herausragende, ungewöhnlich menschliche Stimme geschaffen – eine Stimme, die die Kraft einer menschlichen Geschichte zeigt, sich in die Herzen einfräst und jeden Blickwinkel durchdringend die Botschaft übermittelt.

Wie sonst wäre es fassbar, dass ein Mädchen nur sieben Jahre lang Kind sein durfte, bevor es ins Konzentrationslager deportiert wurde? Es ist unfassbar, dass man einem Mädchen die Kindheit raubt, ihm die Familie nimmt, die Menschenwürde.

Ich danke Ihnen, Inge, dass Sie es geschafft haben, das Unfassbare zu greifbarer Erinnerung werden zu lassen. Danke, dass Sie Ihre persönliche, bewegende Geschichte mit uns, ja mit der ganzen Welt teilen, für die Erinnerung an den Holocaust in kommenden Generationen.

Danke, dass Sie Ihre persönliche, bewegende Geschichte mit uns, ja mit der ganzen Welt teilen, für die Erinnerung an den Holocaust in kommenden Generationen.

Grausamkeit Meine Damen und Herren, die Entscheidungen, die Inges Leben veränderten, wurden vor 80 Jahren und sieben Tagen gefällt, nicht weit von hier in der Villa am Wannsee. Als ich gestern vor der prächtigen Villa stand, war ich sprachlos. Ich spürte die unglaubliche Diskrepanz zwischen den pastoralen Blumenbeeten, dem am Horizont glitzernden See und der Grausamkeit, mit der an diesem Ort die Maschinerie zur Vernichtung des europäischen Judentums konstruiert wurde.

Die das Blut gefrieren lassende Wannsee-Konferenz sollte die verschiedenen Bereiche koordinieren, um das übergeordnete Ziel des NS-Regimes zu erreichen, nämlich jegliche Erinnerung an das jüdische Volk auszulöschen. Im Voraus geplante, auf unerklärlichem Hass fußende Vernichtung und Massenmorde wurden von einem Regime, das demokratisch und rechtmäßig zustande kam, systematisch durchgeführt.

80 Jahre und sieben Tage sind historisch ein Nichts, reichen aber nicht, um alle Wunden zu heilen. Viele tragen noch unverheilte Wunden, für die es nie Heilung geben wird.

Leben Verehrte Damen und Herren, die Erinnerungsarbeit verbindet unsere beiden Völker, das israelische und das deutsche. Neben der Erinnerung steht der Aufbau. In diesen 80 Jahren und sieben Tagen ist es uns – unseren beiden Nationen – gelungen, uns aus dem nationalen historischen Trauma heraus zu erheben, um mit Mut und Entschlossenheit etwas Neues zu schaffen. Zwei Nationen zwischen Tod und Leben entscheiden sich jeden Tag erneut für das Leben:

Ich habe euch Leben und Tod,
Segen und Fluch vorgelegt,
dass du das Leben erwählst
und am Leben bleibst.
(5. Buch Mose, Kapitel 30, Vers 19)

Zwei Nationen, die eine außergewöhnliche Reise zurückgelegt haben, auf dem Weg zur Versöhnung und Verfestigung der Beziehungen, der mutigen Freundschaft zwischen ihnen: Deutschland und Israel haben eine Brücke gebaut. Sie sehen die Stärken und die Bedeutung von Demokratie auf gleiche Art und Weise und wissen um die unerlässliche Notwendigkeit, gemeinsam an der Bewahrung der Demokratie zu arbeiten – immer wieder, Tag für Tag.

Deutschland und Israel haben eine Brücke gebaut.

Wir haben die Beziehungen zwischen den Völkern gefördert in der Welt des Schaffens und der Kultur, der Technologie und der Innovation, des Handels, der Wissenschaft und der Akademie sowie der Medizin. Wir haben Zusammenarbeit in Sicherheit und Nachrichtendiensten geschaffen sowie wichtige und tiefe Kooperationen zwischen unseren beiden Parlamenten ins Leben gerufen.

Deutschland hat die Verantwortung für die Sicherheit Israels zu einem Grundpfeiler seiner Außenpolitik gemacht. Deutschland bezieht ganz entschieden Position gegen den Antisemitismus, auch wenn er sich in Form von Antizionismus äußert. In bilateralen wie internationalen Foren beweist Deutschland – Mal für Mal wieder – seine moralische und historische Verpflichtung gegenüber der Existenz und Sicherheit des Staates Israel.

Vertrauen Unsere Beziehungen sind von Vertrauen, Aufrichtigkeit, Solidarität und Gegenseitigkeit geprägt, die es uns ermöglichen, Herausforderungen für unsere beiden Staaten und auch für die gesamte Menschheit gemeinsam anzugehen – Herausforderungen wie das Coronavirus samt Varianten oder die Klimakrise, die unsere und die Zukunft der gesamten Welt bedroht.

Für all das möchte ich mich noch einmal bedanken bei der vorherigen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die ihre lange Amtszeit erst vor Kurzem beendet hat. Sie hat Deutschlands Stärke verfestigt und sich unermüdlich für die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern eingesetzt. Vielen Dank, Angela Merkel!

Werte Damen und Herren, Herr Bundeskanzler Olaf Scholz, der Staat Israel verlässt sich auf Sie und weiß, dass Sie diese langjährige Tradition fortsetzen werden, dass wir gemeinsam weiter an den Beziehungen zwischen den Staaten und Völkern arbeiten werden.

So viel wir bereits getan haben mögen, ist es doch unsere Pflicht, immer noch mehr zu tun.

Werte Damen und Herren, so viel wir bereits getan haben mögen, ist es doch unsere Pflicht, immer noch mehr zu tun. Letztlich erhalten wir die Erinnerung wach, um das Wohl menschlicher Ewigkeit zu sichern. Doch neben der Erinnerung müssen wir aus ihr heraus auch eine Vision schaffen. Dabei sollten wir die Hoffnung vor Augen haben, gemeinsam eine Zukunft zu planen, die sich auf gemeinsame Werte und Träume stützt.

Wir müssen unsere jungen Menschen zusammenbringen – die Generation der Enkel und Urenkel, die dritte und vierte Generation und all die Generationen, die nach ihnen kommen werden. Wir müssen ihnen den Zusammenschluss von Kräften und Köpfen mit auf den Weg geben, zum Wohl einer Zukunft voller Inspiration, einer Zukunft, die auf den Werten der Demokratie, der Freiheit und Toleranz basiert – Werte, die Israel und Deutschland teilen –, in unseren jungen Frauen und Männern das Gute im Menschen stärken, sie davor warnen, andere zu hassen, nur weil sie anders sind.

Die ewig ernste Mahnung des Holocaust an die Juden Europas lautet: Nie wieder! Nie wieder!

Zukunft Werte Damen und Herren, vor 80 Jahren und sieben Tagen sollte das jüdische Volk ausgelöscht werden. Seitdem ist unser Volk auferstanden. Wir haben einen unabhängigen Staat, unsere historische Heimat, den Staat Israel. Heute wollen wir erinnern – wir werden nie vergessen! – und gemeinsam eine vielversprechende Zukunft schaffen.

Zum Ende meiner Ausführungen möchte ich hier, an diesem Ort, der Toten gedenken. Dazu werde ich einen Ausschnitt aus dem Kaddisch-Gebet verlesen, das jüdische Gebet zur Erhörung ihrer Seelen.

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