Interview

»Es hätte viel kürzer und klarer sein müssen«

Peter Neumann Foto: Laurence Chaperon

Herr Neumann, das Gutachten des Verfassungsschutzes zur AfD hat mehr als 1000 Seiten. Welchen Eindruck haben Sie nach der Lektüre?
Das Problem ist, dass dieses Gutachten nicht so stringent argumentiert ist, dass sich die entscheidenden Abschnitte auf einen bestimmten Teil oder eine bestimmte Passage konzentrieren würden. Die finden sich immer wieder in größeren Abschnitten über andere Themen. So enthält das Gutachten bestimmt 25 Seiten darüber, wie die AfD ausreisepflichtige Asylbewerber oder Ausländer abschieben möchte. Das ist eine rechte Forderung, aber nicht rechtsextrem. Der entscheidende Punkt – nämlich, dass die AfD aufgrund ihres völkischen Weltbildes auch Menschen abschieben möchte, die sich rechtmäßig hier aufhalten – kommt dann erst später. Mit anderen Worten: Die ersten Seiten hätte man sich eigentlich schenken können. Wenn überhaupt, dann wird das eigentliche Argument dadurch verwässert. Diese mangelnde Stringenz zeigt sich auch beim Thema Antisemitismus, wo offensichtlich nicht viel Explizites gefunden wurde, aber dennoch über mehrere Dutzend Seiten darüber gesprochen wird, wie die AfD Chiffren verwendet. Natürlich weiß ich, dass das oftmals antisemitisch gemeint ist, aber ich kann mir schwer vorstellen, dass diese Chiffren allein ein deutsches Gericht vom antisemitischen Charakter der Partei überzeugen. Deswegen hätte ich mir gewünscht, dass der Verfassungsschutz bei der Beweisführung viel zielgerichteter vorgegangen wäre.

Was sind aus Ihrer Sicht die stärksten Punkte des Gutachtens?
Das Gutachten macht deutlich, dass die AfD nicht mehr die Partei ist, die sie vor zehn Jahren noch war, sondern sich in den vergangenen fünf Jahren dramatisch verändert hat. Der offiziell aufgelöste »Flügel« um Björn Höcke hat das Sagen in der Partei und kontrolliert etwa zwei Drittel der Vorstandsmitglieder. Diese Leute haben ein Volksverständnis, das dem des Grundgesetzes grundsätzlich widerspricht. Aber auch dieser Punkt müsste viel stärker in den Vordergrund gestellt werden. Ich persönlich glaube nicht, dass ein Richter, der über die Einstufung der AfD als gesichert rechtsextremistisch urteilen muss, mehr als 1000 Seiten aufmerksam durchlesen und dann sagen wird: Hier auf Seite 583 ist der entscheidende Punkt. Das Gutachten hätte viel kürzer sein und klarer formuliert werden müssen.

Stand denn für Sie etwas Neues drin?
Eigentlich wenig, muss ich sagen. Das ist ein weiterer Punkt: Die AfD ist seit 2022 als Verdachtsfall eingestuft, was bedeutet, dass der Verfassungsschutz bestimmte nachrichtendienstliche Mittel einsetzen kann. Er dürfte zum Beispiel V-Leute rekrutieren, bestimmte Veranstaltungen abhören oder sich dort unter falschen Namen einschmuggeln. Von diesen Methoden hätte das Gutachten profitiert, aber am Ende enthält es wenig, was die Arbeit des Verfassungsschutzes von Zitate-Sammlern im Internet unterscheidet.

Trotzdem hat der Verfassungsschutz sich geweigert, dieses Gutachten zu veröffentlichen. Können Sie verstehen, warum?
Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass da ein oder zwei Stellen Informationen drin stehen, die aus verdeckten Quellen kommen. Bisher ist mir diesbezüglich aber nichts aufgefallen. Behörden wie der Verfassungsschutz sind natürlich darauf bedacht, ihre Quellen und Methoden zu schützen. Der Verfassungsschutz hat auch schon frühere Gutachten nicht veröffentlicht. Aber gerade in diesem Fall ist das ein Fehler. Es geht ja nicht um irgendeine obskure rechtsextremistische Gruppe mit ein paar Dutzend Mitgliedern, nach der politisch gesehen kein Hahn kräht, sondern um die größte Oppositionspartei in Deutschland. Das heißt, die politische Sprengkraft dieses Gutachtens und der Einstufung, die damit verbunden ist, ist eine ganz andere. Die Debatte wird ja auch international wahrgenommen, wie die Tweets von US-Außenminister Marco Rubio und Vize-Präsident JD Vance zeigen, die behaupten, der Verfassungsschutz würde die politische Opposition zerstören wollen. Ein ungeheuerlicher Vorwurf, der dem Ansehen Deutschlands schwer schadet. Ich hätte mir von Anfang an erhofft, dass zumindest eine Zusammenfassung des Gutachtens veröffentlicht wird, um diese Anschuldigungen zu entkräften. Und zwar in deutscher und englischer Sprache.

Reicht aus Ihrer Sicht das Gutachten aus, um der AfD eine gesicherte rechtsextremistische Position nachzuweisen?
Das hoffe ich, weil ich auch der Überzeugung bin, dass die AfD mittlerweile eine gesichert rechsextremistische Partei ist. Ich habe aber die Befürchtung, dass diese kleinen Nuggets im Gutachten, die genau das nachweisen, in der Masse von Informationen untergehen. Das bestätigen mir auch Leute aus dem Innenministerium, die davon überzeugt sind, dass eine fachliche Überprüfung diesem Gutachten sehr gutgetan hätte.

Das heißt, das Gutachten könnte den Anstrengungen, die AfD zu verbieten, sogar schaden, weil es so schluderig formuliert ist?
Ich sage immer zu Studenten: Wenn du mehr als 1000 Seiten brauchst, um deinen Punkt zu machen, bist du dir deiner Sache wahrscheinlich gar nicht so sicher. Meine Befürchtung ist, dass auch die zuständigen Richter zu diesem Schluss kommen könnten, und wenn die AfD nicht als gesichert rechtsextremistisch eingestuft wird, dann gibt es auch kein Verbotsverfahren.

Lesen Sie auch

Mit welchen Argumenten versucht denn die AfD, das Gutachten anzugreifen?
Die AfD greift sich logischerweise genau die Zitate raus, die vergleichsweise harmlos sind. Wie bereits erwähnt: In dem Gutachten steht etwa, dass die AfD ausreisepflichtige Asylbewerber abschieben will. Auf Twitter kritisiert die Partei dann, dass diese Forderung jetzt schon rechtsextremistisch sein soll, obwohl man nur geltendes Recht umsetzen will. Die Schwammigkeit des Gutachtens bietet der AfD Angriffsfläche, weil sie davon ausgehen kann, dass sich kein Mensch diese mehr als 1000 Seiten durchliest.

Da wären wir wieder bei der mangelnden Stringenz.
Genau. Wenn man zehn Punkte braucht, um zu einem zu kommen, dann geht genau dieser eine Punkt wahrscheinlich unter.

Das Gespräch mit dem Politikwissenschaftler und Professor für Security Studies am King’s College London führte Nils Kottmann.

Jerusalem

Merz: Deutschland wird immer an der Seite Israels stehen

Der Bundeskanzler bekräftigt bei seinem Israel-Besuch die enge Partnerschaft - und hofft auf konkrete Fortschritte bei Trumps Gaza-Plan

von Sara Lemel  06.12.2025

Diplomatie

»Dem Terror der Hamas endgültig die Grundlage entziehen«

Es ist eine seiner bisher wichtigsten Auslandsreisen, aber auch eine der schwierigsten. Kanzler Merz ist für zwei Tage im Nahen Osten unterwegs

 06.12.2025

Jerusalem

Merz trifft Netanjahu und besucht Holocaust-Gedenkstätte

Es ist einer der wichtigsten Antrittsbesuche von Kanzler Merz - aber auch einer der schwierigsten. In den Beziehungen zu Israel gab es in den letzten Monaten einige Turbulenzen

von Michael Fischer  06.12.2025

Akaba/Jerusalem

Merz zu Nahost-Reise aufgebrochen: Antrittsbesuch in Israel 

Das Renten-Drama ist überstanden, jetzt geht es für den Kanzler erstmal ins Ausland. Heute und morgen steht ein besonderer Antrittsbesuch auf seinem Programm

 06.12.2025

Wien

EBU: Boykott hat keine Folgen für Finanzierung des ESC 2026

Der Gesangswettbewerb steht unter Druck. Die Boykott-Welle hat laut der Europäischen Rundfunkunion aber keine Auswirkungen auf dessen Finanzierung. Es werden aktuell rund 35 Staaten erwartet

 05.12.2025

Offenbach

Synagoge beschmiert, Kinder durch Graffiti eingeschüchtert

Rabbiner Mendel Gurewitz: »Ich war der Meinung, dass wir hier in Offenbach mehr Toleranz zwischen den unterschiedlichen Kulturen und Religionen haben als etwa in Frankfurt oder in anderen Städten.«

 05.12.2025

Gaza

Wie die Hamas Hilfsorganisationen gefügig machte

Einer Auswertung von »NGO Monitor« zufolge konnten ausländische Organisationen in Gaza nur Hilsprojekte durchführen, wenn sie sich der Kontrolle durch die Hamas unterwarfen

von Michael Thaidigsmann  05.12.2025

Washington D.C.

Trump plant Übergang in Phase II des Gaza-Abkommens

Der nächste große Schritt erfolgt dem Präsidenten zufolge schon bald. Ein »Friedensrat« soll noch vor Weihnachten präsentiert werden

 05.12.2025

Berlin

Linken-Chef empört über Merz-Reise zu Netanjahu

Jan van Aken regt sich darüber auf, dass er Bundeskanzler Ministerpräsident Netanjahu treffen wird

 05.12.2025