Berlin-Neukölln

Eine türkische Männergruppe und der Nahostkonflikt

Der Hermannplatz ist der bekannteste Fleck in Berlin-Neukölln. Foto: picture alliance / Caro

Die meisten Stühle bleiben leer an diesem Abend beim Berliner Verein »Aufbruch Neukölln«, der in einer dunklen Seitenstraße des Problembezirks Neukölln liegt. Es ist eine kalte und regnerische Nacht, einige Männer haben sich krank gemeldet. Die vier anwesenden Teilnehmer, zwischen Mitte 30 und 80, haben alle türkischen Migrationshintergrund. Ihre Gesichter sind ernst. Nicht alle sprechen Deutsch.

2007 hat Kazim Erdogan diese bundesweit erste Selbsthilfegruppe für muslimische Männer gegründet. Rentner kommen, promovierte Akademiker, Leute mit und ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Der 70-jährige Berliner Psychologe leitet die Gruppe, die sich einmal wöchentlich trifft, um etwa über Toleranz, gewaltfreie Erziehung oder die Rolle der Frau zu sprechen.

Auch aktuelle Themen diskutiert Erdogan immer wieder - etwa die Silvesterkrawalle im Kiez im vergangenen Jahr gegen Polizei und Rettungskräfte. An diesem Abend ist - unangekündigt - der Krieg im Nahen Osten Thema. Und Antisemitismus auf deutschen Straßen.

Mit Jüdin verheiratet

Kazim Erdogan fragt: »Tarkan, kannst du verstehen, dass jüdische Menschen in Berlin oder Deutschland Angst haben?« Tarkan, 35 Jahre alt, Jeans und dunkle Sportjacke, sagt: »Ja, das kann ich. Aber nicht nur Juden müssen Angst haben.« Auch er müsse aufpassen. »Meine Frau, die Kopftuch trägt, wird regelmäßig in der Öffentlichkeit beleidigt«, berichtet der 35-Jährige. Überhaupt habe er den Eindruck, dass Migranten in Deutschland umso eher akzeptiert würden, wenn sie möglichst wenig »ausländisch« aussähen - wie etwa die Ukrainer.

Tarkan, dessen Eltern deutsch und türkisch sind, ist in Neukölln aufgewachsen. Von steigendem Antisemitismus in den eigenen Reihen seit den Angriffen der radikalislamischen Hamas und dem Krieg im Gazastreifen spüre er im Freundeskreis nichts, sagt er. Sein bester Freund etwa, selbst Berliner Muslim, sei mit einer deutschen Jüdin verheiratet.

»Die beiden sind das beste Beispiel dafür, dass es klappen kann zwischen Muslimen und Juden.« Ganz geheuer scheint ihm die Situation des Paares bei der derzeitige politischen Lage aber dennoch nicht zu sein. »Ich habe ihm schon gesagt, dass er aufpassen soll auf sie«, gibt er zu.

Kritische Themen

Antisemitismus - dies sei neben Homosexualität eines der Themen, bei denen Gruppenleiter Erdogan weiß, dass er sie nur vorsichtig ansprechen kann, wie er selbst sagt. »Da sind viele Menschen mit türkischer Zuwanderungsgeschichte noch ganz am Anfang«, sagt er, der mit Anfang 20 nach Deutschland kam. »Es gibt unter ihnen einige Leute, die Hass gegenüber Juden haben.« Viele identifizierten sich mit der Situation der Palästinenser, weil diese meist wie sie selbst Muslime seien.

Dass die Hamas eine radikalislamische Terrororganisation ist: Da sei er sich zum Beispiel gar nicht sicher, sagt Tarkan - und die anderen nicken. »Das sagen die deutschen Medien. Das ist wie bei Putin: Alle, die der westlichen Welt nicht gefallen, werden als Terroristen hingestellt.« In den sozialen Medien oder im türkischen Fernsehen höre er ganz andere Dinge.

Ein Phänomen, das Erdogan und auch andere Forscher bestätigen: Das vom Nahen Osten gezeichnete Bild, das durch die digitalen Kanäle geistere, unterscheide sich diametral von dem, was in deutschen Medien zu sehen, hören oder lesen sei, so umschreibt es der Islamwissenschaftler Bülent Ucar aus Osnabrück.

Beide Seiten

In einem Punkt sind sich alle anwesenden Männer einig: Der Krieg im Nahen Osten müsse so schnell wie möglich aufhören, es dürften keine weiteren Kinder oder Frauen ermordet werden - auf beiden Seiten nicht. So sagt es etwa Baris, dessen Name auf deutsch »Frieden« bedeutet.

»Wenn ich sehe, dass tausende Menschen in Gaza ihr Leben verlieren, macht mich das sehr traurig«, sagt er. Ein älterer, weißhaariger Mann ergänzt: »Meine Frau und ich können die schrecklichen Bilder nicht mehr anschauen. Von beiden Seiten sind die Sicherungen durchgebrannt. Es ist abscheulich.«

Tarkan ergänzt: »Ich weiß, dass Deutschland eine historische Verantwortung hat für Israel.« Aber das dürfe nicht über das Schicksal von anderen Menschen gestellt werden, findet er. Über Islamophobie etwa sollten deutsche Medien in gleicher Weise berichten.

Kazim Erdogan ordnet diese Aussage so ein: »Meine Männer finden es schwierig, dass sie nur in Zeiten besonderer Vorkommnisse gehört werden und sonst nicht. Da fühlen sie sich nicht ernst genommen. Die Emotionen sind bei dem Thema gerade sehr hoch. Wir müssen aber in Gelassenheit darüber kommunizieren, sonst finden wir nicht zueinander.«

Meinung

Wenn Nächstenliebe zynisch wird

In einer Erklärung überzieht der Weltkirchenrat Israel mit Vorwürfen, erwähnt die Hamas aber mit keinem Wort. Eine Einseitigkeit, die zum Himmel schreit

von Tobias Kühn  vor 24 Minuten

Iran

Ajatollah Chamenei droht den USA für den Fall weiterer Angriffe

Nach rund einer Woche ohne Lebenszeichen von Irans Staatsoberhaupt meldet sich dieses nun zurück. Unklarheiten gibt es weiter über die Schäden an Irans Atomanlagen

 vor 58 Minuten

Interview

Nuklearforscher: »Das iranische Atomprogramm neu aufzubauen, würde Jahre dauern«

Georg Steinhauser über die israelischen und amerikanischen Schläge gegen Atomanlagen im Iran, die Eigenschaften von Uran-235 und mögliche Szenarien für die Zukunft

von Michael Thaidigsmann  vor 1 Stunde

Luftfahrt

Irans Luftraum bleibt weitgehend gesperrt

Seit Dienstag herrscht eine Waffenruhe zwischen Israel und dem Iran. Eine komplette Entwarnung für den Flugverkehr gibt es jedoch noch nicht

 vor 2 Stunden

Asyl

Protest gegen drohende Abschiebung von Hamza Howidy

Der Gazaner soll nach Griechenland zurückgeschickt werden, wo er erstmals Asyl beantragte. Er hat namhafte Unterstützer, die sich für seinen Verbleib in Deutschland einsetzen

von Imanuel Marcus  vor 7 Stunden

Balkan

Bosnien entschuldigt sich bei Rabbinerkonferenz

Über eine Tagung der Europäischen Rabbinerkonferenz in Sarajevo kam es zum judenfeindlichen Eklat. Mit der jetzt erfolgten Entschuldigung ist der Fall indes noch nicht bereinigt

 vor 7 Stunden

Korntal-Münchingen

Nach dem Hissen von Israel-Flaggen: Firma wird Opfer von mutmaßlicher Brandstiftung

Die Geschäftsführung will Solidarität mit dem jüdischen Staat zeigen. Nun ist sie mit einem erheblichen Feuerschaden konfrontiert

 vor 7 Stunden

Iran

Tod von Kommandeur der Revolutionsgarden bestätigt

Israel hatte General Ali Schadmani bereits vergangene Woche für tot erklärt. Nun wird auch aus Teheran sein Tod gemeldet

 vor 8 Stunden

Nahost

Pentagon und Militär äußern sich zu Angriff auf Atomanlage

Auch Tage nach den Luftangriffen ist das Ausmaß der Schäden noch unklar. Wurde das iranische Atomprogramm um Jahre oder nur Monate zurückgeworfen?

 vor 8 Stunden