Auf Carlos Argüello Gómez waren am Montag die Augen der Weltöffentlichkeit gerichtet. Für den ehemaligen Justizminister Nicaraguas und heutigen Botschafter in den Niederlanden war es nicht der erste Auftritt vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH). Bereits vor 40 Jahren hatte Argüello sein Land vor dem obersten Weltgericht repräsentiert.
Am Montag begründete der 77-jährige Diplomat die Klage seiner Regierung gegen die Bundesrepublik Deutschland. Der Vorwurf: Berlin leiste durch seine Unterstützung Israels, auch durch Waffenlieferungen, und durch den Stopp der Zuschüsse für das UN-Hilfswerk UNRWA in Gaza, mittelbar Beihilfe zum Völkermord an den Palästinensern.
In der Anhörung im Haager Friedenspalast ging es zunächst nur um den Erlass einstweiliger Maßnahmen durch das oberste UN-Gericht. Das Hauptsacheverfahren dürfte sich über Monate, wenn nicht Jahre hinziehen. Zunächst müssen die 16 Richter aber über den Antrag Nicaraguas entscheiden, Deutschland per einstweiliger Anordnung dazu zu verpflichten, keine Waffen mehr an Israel zu liefern und die Zahlungen an die UNRWA wieder aufzunehmen.
Doch Argüello Gómez und die beiden von ihm beauftragten Rechtsbeistande – der in Paris ansässige deutsche Rechtsanwalt Daniel Müller und der französische Völkerrechtler Alain Pellet – feuerten schon jetzt rhetorisch aus allen Rohren. Waren sie sich bewusst, dass Nachrichtensender wie Al-Jazeera ihre Plädoyers in alle Welt übertragen würden?
Nicaragua ist eine der schlimmsten Diktaturen der Welt
Nicaragua, das seit Jahrzehnten diktatorisch von dem linksgerichteten Präsidenten Daniel Ortega regiert wird, steht auf der Liste der größten Menschenrechtsverletzter in der Welt ziemlich weit oben. Doch das hindert die Machthaber in Managua offensichtlich nicht daran, auf Deutschland mit dem Finger zu zeigen.
In seinem Land, so Carlos Argüello in seinem Eingangsstatement vor den Richtern, gebe es nun einmal eine »besondere Sympathie« für die Sache des palästinensischen Volkes. Dann kam er auf die Lage in Deutschland zu sprechen. Dort spreche man von Israel im Zusammenhang mit einer »Staatsräson«, und das alles wegen »der Behandlung der Juden« durch die Nationalsozialisten.
»Das ist eine verständliche und lobenswerte Politik, wenn sie sich an das jüdische Volk richten würde. Der israelische Staat und insbesondere seine derzeitige Regierung sollten jedoch nicht mit dem jüdischen Volk verwechselt oder gleichgesetzt werden. Die wahren Freunde des jüdischen Volkes sollten diesen Unterschied betonen«, so Argüello. Die jüdischen Opfer in den NS-Konzentrationslagern würden Mitgefühl und Empathie für »die mehr als 30.000 Zivilisten empfinden, darunter fünfundzwanzigtausend Mütter und Kinder, die bisher in Palästina massakriert wurden«, behauptete er.
Blind gegen Judenhass der Hamas
Israels Militäraktion gegen die Hamas stellte Arguëllo nicht als Reaktion auf den Angriff vom 7. Oktober dar. Im Gegenteil: Das Massaker der Hamas müsse man (er zitierte zustimmend UN-Generalsekretär António Guterres) im Kontext der »Besatzung Palästinas« und der »Nakba« sehen.
Deutschland positioniere sich völlig einseitig in dem Konflikt, behauptete Arguëllo (seine eigene Einseitigkeit erwähnte er nicht). Berlin habe seine Waffenlieferungen verzehnfacht und erst in jüngster Zeit vorsichtige Forderungen an die Adresse der Israelis erhoben. Die seien womöglich auch eine Reaktion auf die Klage seines Landes vor dem IGH. In Wahrheit vermutet er hinter der deutschen Position handfeste Interessen der deutschen Rüstungsindustrie – und der USA.
»Bei allem Respekt vor dem moralischen Imperativ Deutschlands, der die Verteidigung Israels als Staatsräson bezeichnet, gibt es noch eine andere, weniger edle Realität, die der Allgemeinheit und der deutschen Bevölkerung vielleicht nicht bekannt ist: Es gibt auch ein lukratives quid pro quo. Israel liefere Deutschland sein Raktenabwehrsystem Arrow-3, und im Gegenzug profitierten deutsche Unternehmen von der Lieferung von Kriegsgerät an die israelische Regierung, so Argüello.
Botschafter beschimpft Israel als »rassistisches Regime«
Dabei, so suggerierte es der Nicaraguaner, sei Israel bereits jetzt bis an die Zähne gerüstet und nutze »Palästina als Testfeld« für seine Waffentechnologie. Pro Kopf gebe Israel sogar mehr Geld für Verteidigung aus als der Iran, behauptete er. Israel agiere seit 1948 mit einem Gefühl der Straflosigkeit; seine Menschenrechtsverletzungen seien hinreichend dokumentiert.
In den von Israel besetzten Gebieten (Gazastreifen und Westjordanland einschließlich Ostjerusalems) herrsche ein »Apartheidregime«, das Menschen nach ihrer »Rasse« unterscheide.
Das palästinensische Volk habe hingegen das Recht, sich dagegen zu wehren. Es müsse sich »mit Waffen gegen Besatzung und rassistische Regime« verteidigen dürfen, natürlich im Rahmen des Völkerrechts. Das auch das jüdische Volk ein Recht auf Selbstbestimmung und Selbstverteidigung hat und sich gegen Angriffe auf die Zivilbevölkerung zur Wehr setzen darf, erwähnte Argüello zwar, unterstellte der Regierung in Jerusalem aber sogleich niedere Motive. Es gehe ihr in Wahrheit - und das sei seit dem 9. oder 10. Oktober erkennbar - darum, die Palästinenser zu »vernichten«.
Nicaragua hingegen gehe es mit seiner Klage darum, Deutschland zur Einhaltung der Völkermordkonvention – im Gegensatz zu anderen Bestimmungen des internationalen Rechts wird diese vom IGH überwacht – und des humanitären Völkerrechts zu bewegen, sagte Argüello.
Anders als bei der ebenfalls in Den Haag anhängigen Klage Südafrikas gegen Israel gehe es seinem Land nun darum, dass auch Drittstaaten wie Deutschland Verantwortung für ihre Handlungen übernähmen. »Deutschland verstößt gegen seine eigene Verpflichtung, Völkermord zu verhindern oder die Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu gewährleisten. Die Verletzungen des humanitären Völkerrechts durch Israel begründen für Deutschland und für alle Staaten der internationalen Gemeinschaft Verpflichtungen, für die Deutschland verantwortlich ist und die im vorliegenden Verfahren geltend gemacht werden.«
Warum Nicaragua nur Deutschland und nicht etwa die USA oder andere westliche Unterstützer Israels verklagt hat, führten Carlos Argüello und seine beiden Kollegen auf der Klägerbank nicht aus.
Kritik an eingefrorenen UNWRA-Zahlungen
Daniel Müller stieg als Zweiter in den Ring. Der deutsche Jurist sprach über die humanitäre Lage der Menschen in Gaza und sagte, es bestehe dort das »Risiko eines irreparablen Schadens für die Palästinenser« und die »reale Gefahr völkermörderischer Handlungen«. Zivilisten seien in der Küstenenklave völlig schutzlos. Auch im Westjordanland müssten die Palästinenser mit der »Kolonisierung ihres Landes« durch Israel fertig werden. Die Bundesregierung zeige nichtsdestotrotz nach wie vor volle Unterstützung für Israel und seine Armee, allen Appellen von Olaf Scholz und Annalena Baerbock zum Trotz.
Die schlechte Lage in Gaza führte Müller auch auf die Entscheidung Deutschlands zurück, die Mittel an das UN-Hilfswerk UNRWA in Gaza vorerst auf Eis zu legen. Zuvor war bekannt geworden, dass zahlreiche UNRWA-Mitarbeiter Verbindungen zur Hamas unterhalten und einige sogar in die Massaker und Entführungen des 7. Oktober verwickelt gewesen sein sollen. Die UNRWA, behauptete hingegen Müller, leiste eine zentrale und »lebenswichtige« Arbeit in Gaza. Deutschland warf er vor, in dem Wissen darum trotzdem den Geldhahn zugedreht zu haben.
Als nächster Redner war Alain Pellet an der Reihe, der sich ausführlich mit dem humanitären Völkerrecht und der Rolle des IGH darin auseinandersetzte. Alle Parteien müssten auf Israel einwirken, damit dieses seinen Verpflichtungen nachkomme. Dann schmierte er den Richtern rhetorisch etwas Honig ums Maul: Zwar könne der IGH nur unverbindliche Meinungen zu Aspekten des humanitären Völkerrechts abgeben. Das bedeute aber nicht, dass das Recht nicht dennoch verbindlich sei für alle Vertragsparteien – und sogar für alle Staaten.
Wörtlich sagte er: »Als Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft bittet Nicaragua darüber hinaus den Gerichtshof, die schweren Verstöße Deutschlands gegen seine Verpflichtungen festzustellen und zu ahnden, die sich aus zwingenden Normen des allgemeinen Völkerrechts in denselben Bereichen ergeben.« Damit gemeint seien »seine Pflichten zur Verhinderung und Bestrafung von Völkermord- oder Apartheidverbrechen, Verstöße gegen grundlegende oder des humanitären Rechts oder das Recht, im Interesse des palästinensischen Volkes Wiedergutmachung zu fordern.«
Deutschland darf am Dienstag Gegenargumente präsentieren
Das letzte Wort für den Kläger hatte anschließend erneut Carlos Argüello Gómez. Er appellierte an das Gericht, die gewünschten Sofortmaßnahmen zu verhängen – und das, noch bevor überhaupt klar ist, ob die israelische Militäraktion gegen die Hamas überhaupt nach der Völkermordkonvention strafbar ist. Viele Experten glauben, dass das von Südafrika angestrengte Verfahren gegen Israel nicht von Erfolg gekrönt sein wird. Falls dem so ist, wäre auch der Vorwurf Nicaraguas an die Adresse Deutschlands nichtig.
Eigentlich finden Verfahren vor dem Weltgericht nur unter Einbeziehung der betroffenen Drittstaaten statt. In diesem Fall wäre das Israel. Auch das spricht gegen die Erwartung Nicaraguas, am Ende Recht zu bekommen.
Allerdings hat der IGH mit seiner Anordnung vom 26. Januar an Israel durchaus unter Beweis gestellt, dass er möglicherweise dennoch bereit ist, einstweilige Maßnahmen anzuordnen. Ob die Richter sich aber so weit aus dem Fenster lehnen werden und Deutschland dazu auffordern, Israel keine Unterstützung mehr zu leisten, erscheint dennoch zweifelhaft.
Am Dienstag wird die Bundesregierung dem Gericht ihre Gegenargumente präsentieren. Wie sie sich dabei positioniert, dürfte spannend werden.