Zwei Erinnerungen treiben mich um, wenn ich an den Jahrestag der Befreiung der Welt vom Schrecken des Nationalsozialismus denke. Da ist die frühe Kindheit in Mykolajiw: Nur ein paar Meter von unserer Wohnung entfernt stand ein Denkmal für den sowjetischen Sieg im Zweiten Weltkrieg. Mir kam es damals unvorstellbar groß vor. Heute, während meine ukrainische Heimatstadt unter russischem Beschuss steht, ist mir bewusst: Das Denkmal ist in Wahrheit äußerst bescheiden.
In der zweiten Erinnerung bin ich, mittlerweile seit vielen Jahren in Deutschland lebend, in einem Plattenladen in Lübeck. Ganz unten in einem Regal versteckt fand ich eine Vinylplatte in tadellosem Zustand, darauf ist die Rede von Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag der deutschen Kapitulation. Er spricht von »Befreiung« statt von »Niederlage«. Da fühlte ich mich, ein jüdischer Migrant, mitgemeint. Die Platte nahm ich mit nach Hause.
Vage wie meine Kindheitserinnerung
In meinem Kopf gibt es noch mehr. Hier tummeln sich zahlreiche Bezüge meiner Familie zu den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs und zu den Verbrechen der Nazis. Doch sie sind so vage wie meine Kindheitserinnerung oder so gut versteckt wie die Schallplatte mit der Weizsäcker-Rede.
Wo sollen meine Überlegungen über den anstehenden Jahrestag also ansetzen? Ich entscheide mich für das, was mir hier und heute am wichtigsten erscheint: die Ukraine, ein Land im Krieg. Es wird das dritte Mal sein, dass an den 8. Mai erinnert wird in einem Deutschland, das durch den Angriffskrieg Russlands plötzlich festgestellt hat, dass seine bisherige historische Vorstellung von »den Russen« weder der Komplexität des Zweiten Weltkriegs noch unserer Gegenwart gerecht wird.
Wir erlebten in den vergangenen Jahren irrwitzige Debatten, in denen Denkmäler der Roten Armee mit dem Argument, man wolle sich von Russland distanzieren, entfernt werden sollten. Zum Glück gab es die Einsicht, dass die Rote Armee eine Vielvölker-Streitmacht war, in der Ukrainer genauso mitgekämpft haben wie etwa Soldaten aus Turkmenistan. Die Reduktion auf »Russen« ist Ausdruck der mangelhaften Erinnerungskultur in Deutschland und kein Problem der Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion. Wir kennen unsere Vergangenheit.
Der Jahrestag ist kein Anlass für allzu viel Stolz und Selbstlob.
Aus diesem Missverständnis folgt ein Argument, das sich wacker in der Debatte über die Unterstützung der Ukraine hält. Dass vor über 80 Jahren schon einmal deutsche Panzer auf ukrainischem Gebiet fuhren und dort für schlimmste Verheerungen sorgten, ist für manche ein Grund, heute der Ukraine Waffenlieferungen vorenthalten zu wollen. Ein Denkfehler, der sich als vermeintliche Lehre aus dem Nationalsozialismus ausgibt.
Einen weiteren Trugschluss sollte man vermeiden: Zwar ist es der 80. Jahrestag, eine imposante Zahl, doch erst zum 55. Mal wird er als solcher begangen. Denn die junge Bundesrepublik sah sich nicht imstande, diesen Tag feierlich zu würdigen. Erst Willy Brandt gab zum 25. Jahrestag die erste Regierungserklärung ab und wurde damals dafür von den Unionsparteien heftig kritisiert. In der DDR reihte sich dieser Jahrestag in den Kanon der öffentlichen Pflichtveranstaltungen ein, die der Staatsführung dienten und nicht den Menschen. So zeigt die imposante runde Zahl bei genauerer Betrachtung viele Kanten.
Opfergruppen als Instrumente zum Einfangen von Wählerstimmen
Während die Union von da an einen weiten Weg zurücklegte und mit Richard von Weizsäcker einer ihrer Politiker das entscheidende Wort der »Befreiung« mit dem Jahrestag verknüpft hat, stellt im aktuellen Bundestag die AfD die zweitgrößte Fraktion. Eine Partei, für die der Geschichtsrevisionismus zum Programm gehört und die Opfergruppen des Nationalsozialismus nur als Instrumente zum Einfangen von Wählerstimmen ausnutzt.
Dabei lag so viel Hoffnung darin, dass Deutschland ein für alle Mal befreit worden sei von dem Geist der Ungleichwertigkeit und dem Wahnwunsch nach Expansion. Diese Hoffnung bröckelt, während die Umfragewerte der AfD weiter steigen.
Der 80. Jahrestag der Befreiung ist kein Anlass für allzu viel Stolz und Selbstlob. Deutschland braucht noch ein bisschen mehr Zeit, vor allem mehr demokratische Zeit, um die Bedeutung dieses Tages zu verstehen – und zu verinnerlichen. Ganz praktisch bekommen Menschen Zeit, wenn sie nicht arbeiten müssen. Umso besser, dass zumindest für die Berlinerinnen und Berliner in diesem Jahr der 8. Mai ein gesetzlicher Feiertag ist. Wie wäre es, wenn das künftig jedes Jahr und im ganzen Land so gehalten wird?
Vielleicht werden die Menschen die Gelegenheit nutzen, um zu tun, was wir alle mehr machen sollten: darüber reden, wovon die Welt und Deutschland an diesem Tag befreit wurden und wozu uns diese Freiheit verpflichtet.
Der Autor ist SPD-Politiker in Halle.