Wieder sitzt Lahav Shapira im Gerichtssaal B129. Wieder ist es stickig, wieder drängen sich die Journalisten auf den Presseplätzen. Drei Monate ist es her, dass der jüdische Student in genau diesem Saal schon einmal saß. Damals beschrieb er als Nebenkläger, wie er von seinem Kommilitonen Mustafa A. bewusstlos geschlagen und getreten wurde. Drei Jahre Haft bekam der Täter, ein auffallend strenges, für viele ein genugtuendes Urteil.
Doch mit dem Richterspruch war der Fall für Shapira und viele jüdische Studierende nicht abgeschlossen. Denn eine dritte Partei fehlte in dem Prozess: Die Freie Universität Berlin, auf deren Campus, in deren Hörsälen und studentischen Chatgruppen sich eine »antisemitisch verhetzte Stimmung« bilden konnte, die, so das Argument von Shapiras Anwälten, erst zu dem brutalen Angriff führte.
Welche Verantwortung trägt eine Universität für das, was ihren Studierenden widerfährt? Welche Maßnahmen muss sie ergreifen, wenn sie von Kommilitonen belästigt, beleidigt, geschubst, ausgeschlossen, schließlich verprügelt werden? Wenn sich auf dem Campus ein »Umfeld der Einschüchterung« manifestiert, in dem sich Lahav Shapira nicht mehr ohne externe Sicherheitsleute in Seminare traut?
Und wozu verpflichtet das Berliner Hochschulgesetz, in dem geschrieben steht, dass Universitäten gegen Diskriminierungen vorgehen müssen? All diese Fragen waren nach dem Urteil gegen den Angreifer Mustafa A. noch offen. Und haben nun zu einem zweiten Prozess geführt: Lahav Shapira verklagt seine eigene Universität.
Kein Urteil
Am Dienstag begann der Prozess vor dem Verwaltungsgericht und endete nicht wie zunächst erwartet noch am selben Tag. Der Richter stellte fest, dass es sich um eine zwar ungewöhnliche, aber wohl zulässige Klage handelt, die die Grundrechte des Klägers berührt. Deshalb sieht er weiteren Klärungsbedarf. Im Oktober soll die Verhandlung daher weitergehen.
»Wir wollen zur Begründetheit mehr hören, gerade von Seiten der Beklagten«, forderte der Richter schon jetzt in Richtung der zwei Vertreter der Rechtsabteilung der Universität, die zum Prozess erschienen waren. Eine einfache Ablehnung der Klage aus rein formell-juristischen Gründen, die die Universität angestrebt hatte, schien das Gericht nicht zu überzeugen.
Bild des Wegduckens
Lahav Shapira wertet bereits das als Erfolg: »Jetzt muss die Uni sich mal erklären«, sagte er nach der Sitzung. Bis heute, so beanstanden auch Shapiras Anwälte, sei die FU Berlin nicht auf sie zugekommen, um ihnen zu erklären, welche Konzepte sie gegen Diskriminierung umsetzen wolle oder wie man plane, zukünftig Studierende zu schützen – »und das seit Einreichung der Klage im letzten Jahr«, betont Anwältin Kristin Pietrzyk. Das zeige ein stringentes Bild des Wegduckens der Unileitung nach dem 7. Oktober.
Ein Beispiel für ein Fehlverhalten seiner Universität skizziert Shapira bereits in der Verhandlung am Dienstag: Nachdem er und weitere Studierende die Unileitung auf antisemitische oder israelfeindliche Plakate und Sticker auf dem Campus aufmerksam machten, schlug der Unipräsident den Betroffenen vor, diese selbst zu entfernen. Doch genau beim Abreißen solcher Plakate wurde Shapira später gefilmt, das Video im Netz über eine Million Mal gesehen.
Shapiras Bild wurde, wahlweise mit Teufelshörnern versehen, in Chatgruppen mit Studierenden geteilt, vor Gericht spricht er von einer »Hetzjagd« gegen ihn – medial und auf dem Campus. Monate später setzte sein Kommilitone Mustafa A. den Hass in Gewalt um: Sekunden bevor er Shapira ins Gesicht schlug, warf er ihm vor, an der Uni Plakate abgerissen zu haben – daran erinnerte sich im April eine Zeugin vor Gericht.
Vorwurf: Verantwortungsverschiebung
Anwältin Kristin Pietrzyk ist empört, dass die Unileitung, anstatt selbst aktiv zu werden, Betroffenen von Antisemitismus nahelegt, etwas gegen ihre eigene Diskriminierung zu unternehmen, und sie damit weiter zur Zielscheibe mache.
Diese Verantwortungsverschiebung zeige sich auch vor Gericht, wenn von Seiten der FU beanstandet werde, man wisse ja gar nicht, was mit dem Klagebegehren konkret verfolgt werde. »Sie sitzen hier ernsthaft und formulieren den Anspruch, dass der Kläger Ihnen sagen müsse, wie Sie konkret Diskriminierung verhindern müssen«, sagte sie sichtbar aufgebracht vor Gericht.
Doch wenn nicht um konkrete Maßnahmen – worum geht es Lahav Shapira und seinen Anwälten in dem Verfahren? Zunächst um eine Feststellung, dass die FU ihrer Verpflichtung aus dem Paragraph 5b Absatz 2 des Berliner Hochschulgesetzes nicht nachgekommen ist. Dieser erst 2021 formulierte Absatz besagt, dass die Hochschulen verpflichtet sind, Diskriminierungen, unter anderem wegen der antisemitischen Zuschreibung, »zu verhindern und bestehende Diskriminierungen zu beseitigen.«
»Signalwirkung für Universitäten«
Eine solche gerichtliche Feststellung würde bereits einen Präzedenzfall schaffen, meint Prof. Dr. Michael Fehling, Professor an der Bucerius Law School und Experte für Hochschulrecht. Bisher sei ihm kein Fall bekannt, in dem ein Student sein Recht, vor den Angriffen Dritter geschützt studieren zu können, vor einem Gericht geltend gemacht habe. »Insofern hätte das Urteil auch eine Signalwirkung für Universitäten in ganz Deutschland.«
Zusätzlich könne ein Verwaltungsgericht auch eine Art Minimum ansetzen, was die Hochschule tun muss, um solche Diskriminierung in Zukunft zu verhindern. Grundsätzlich habe die Hochschule als staatliche Einrichtung Schutzpflichten gegenüber ihren Studierenden. »Je schwerer der Schaden ist, der durch die Diskriminierung droht, desto größere Anstrengungen für einen effektiven Schutz erscheinen geboten.« Da hier ein Student auch körperlich verletzt wurde, stuft der Professor das gebotene Schutzniveau als ziemlich hoch ein. Die Klage könnte also durchaus Konsequenzen für die Universitätsleitung nach sich ziehen.
»Lahav ist leider kein Einzelfall«, betont Ron Dekel, Vorsitzender der Jüdischen Studierendenunion Deutschland. 2024 sind dreimal so viele antisemitische Vorfälle im Kontext von Hochschulen dokumentiert wie im Vorjahr. In über 60 bekannt gewordenen Fällen waren jüdische oder israelische Studierende direkt betroffen. »Dieses Verfahren bedeutet auch ein Stück weit, dass wir uns das nicht gefallen lassen, dass wir wehrhaft sind.«