Essay

Ausweg Palästina

Jedes Thema wird mit Palästina verbunden: ob Feminismus, Rassismus oder, wie hier 2024 in New York, die Klimaerwärmung. Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com

Ob »Konterrevolutionäre Rassisten« oder »zionistische Agenten«: Manche Vorwürfe aus der Gegenwart klingen wie aus der Zeit stalinistischer Säuberungswellen in den 50er-Jahren. Der antizionistische Antisemitismus hat wieder einmal Konjunktur. Der Krieg in Gaza ist für viele Linke zurzeit das einzig relevante Thema, und vieles wird unentwirrbar damit verbunden. Zuletzt fragte die linke israelische Zeitung »Haaretz« angesichts der Debatte um den neuen Superman-Film sogar: »Kämpft Superman für Palästina?«

In dieser Situation stehen progressive Jüdinnen und Juden in linken Bewegungen wieder einmal vor dem »Loyalitätstest«, wie es die Historikerin Shulamit Volkov nannte. Antizionismus gilt vielerorts als Erkennungszeichen der Zugehörigkeit; von Jüdinnen und Juden wird er als Beweis ihrer Hingabe eingefordert. In der Linken gelten »Zionisten« als Revolutionshemmnis; von der extremen Rechten werden sie zugleich revolutionärer Umtriebe bezichtigt. Wer die Revolution behindert, wird für manche Linke zum legitimen Ziel – und die Revolution hat einen Namen: Palästina. Wer daran zweifelt, wird nicht akzeptiert.

Der ärgste Feind steht in den eigenen Reihen. Daher war es in den 70er-Jahren für linksterroristische Gruppen auch kein Widerspruch, aus Solidarität mit palästinensischen Verbündeten Passagiere zu selektieren, die sie für jüdisch oder israelisch hielten. Dass dazu auch Überlebende der Schoa gehörten, bereitete ihnen wenig Gewissensbisse. Ein Abgrund, der im linken Traditionsbewusstsein nur selten Platz findet.

Doch warum scheint sich diese Entwicklung zu wiederholen? Wieso nimmt das Verhältnis zu Palästina wieder einen so großen Raum in der Linken ein, wo es doch etliche Probleme gibt, die die Aufmerksamkeit dieser Bewegung verlangen?

Palästina wird von einem echten Ort zur bloßen Bühne

Das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung ist real, und viele Israelis, einschließlich ranghoher Militärs, lehnen das Vorgehen ihrer eigenen Regierung in Gaza ab. In dieser Situation wäre es die Aufgabe der Linken, Ambivalenzen auszuhalten, sich mit den progressiven Kräften gemein zu machen – sowohl unter Palästinensern als auch Israelis. Aus der Logik des »Entweder-oder« auszusteigen und in die des »Sowohl-als-auch« einzutreten.

Doch anstatt tragfähige Ideen für einen gerechten, für beide Seiten akzeptablen Frieden zu entwickeln, verschiebt sich der Fokus in Teilen der Linken auf eine symbolische Ersatzhandlung. Dabei entwickelt sich Palästina von einem tatsächlichen Ort zu einer bloßen Bühne, auf der die eigene – längst verlorene – Revolution stellvertretend inszeniert wird.

In dieser Logik verkörpert Israel nicht etwa die Erfahrung von Flucht und Verfolgung, sondern gilt als Ausdruck jener kapitalistischen, imperialistischen und »westlichen« Ordnung, die gestürzt werden muss. Wer so denkt, für den wird die Beseitigung Israels zu einer Voraussetzung der eigenen, global gedachten Befreiung. Es ist die Verzweiflung darüber, das revolutionäre Subjekt wieder einmal verloren zu haben, die in euphorischer Einseitigkeit ertränkt wird.

Erklärt man die israelisch-palästinensische Situation zum größten moralischen Skandal unserer Zeit, schwindet der Leidensdruck moralischer Ambivalenzen. Das Leid der Palästinenserinnen und Palästinenser dient nicht als Ausgangspunkt für diplomatische oder politische Lösungsansätze, sondern als moralischer Resonanzraum, in dem man sich selbst als Teil eines heroischen Befreiungskampfes verorten kann.

Wenn der Staat der Schoa-Überlebenden zum Inbegriff des »Unheils« erklärt wird, müssten eigentlich bei allen Linken die Alarmglocken schrillen.

Der Konflikt wird damit weniger gelöst als in eine mythische Erzählung eingewoben, in der Israel nur als Unterdrücker, Palästina nur als Opfer vorkommt und jede komplexe Friedensperspektive schon im Ansatz verloren geht. Reale Probleme werden damit nicht überwunden, aber es bietet sich die Gelegenheit, auf der vermeintlich richtigen Seite der Geschichte zu stehen.

Wenn ausgerechnet der Staat der Schoa-Überlebenden zum Inbegriff des »Unheils« erklärt wird, müssten eigentlich bei allen Linken die Alarmglocken schrillen. Diese ideologische Verschiebung bleibt nicht ohne Folgen für die politische Praxis. Ein Blick auf die jüngsten Entwicklungen in Teilen der Linken verdeutlicht das: Gewalt gegen Menschen, die als Stellvertreterinnen und Stellvertreter Israels markiert werden, hat in erschreckendem Ausmaß zugenommen. So etwa der beinahe tödliche Angriff auf den Berliner Lehramtsstudenten Lahav Shapira durch einen linken Kommilitonen oder der Mord an Yaron Lischinsky und Sarah Milgrim durch einen Linksterroristen vor dem Jüdischen Museum in Washington D.C.

In seinem Manifest erklärte der Täter von Washington D.C.: »Diejenigen von uns, die gegen den Genozid sind, argumentieren gern damit, dass die Täter und Helfershelfer ihre Menschlichkeit verwirkt haben. Ich sympathisiere mit diesem Standpunkt.« Jüdinnen und Juden und deren vermeintlichen Stellvertretern ihre Menschlichkeit abzusprechen, ist ein im klassischen Antisemitismus verwurzeltes Denkmuster.

Genauso ist es eine Kontinuität des Antisemitismus, dass Jüdinnen und Juden oder »Zionistinnen und Zionisten« ganz unabhängig von ihrer jeweiligen politischen Einstellung zum legitimen Ziel von Gewalt erklärt werden. Die Beschäftigung mit den »Gefühlen« von Jüdinnen und Juden wird als Hindernis dabei empfunden, sich dem »Genozid« entgegenzustellen. Antisemitismus wird als exklusives Problem der Rechten wahrgenommen. Und damit der Vorstellung Raum gegeben, dass Jüdinnen und Juden doch irgendwie überprivilegiert – respektive übermächtig – seien.

Die linke Obsession mit Nahost ist ein strategischer Offenbarungseid

Das politische Koordinatensystem in Teilen der Linken hat sich stark verschoben: »Internationalismus« oder »internationale Solidarität« werden heute häufig nahezu synonym mit »Palästinasolidarität« verwendet. Diese Art von Bündnispolitik speist sich aus einer bestimmten Tradition der Linken, in der internationale Solidarität oft nicht an demokratische und emanzipatorische Prinzipien, sondern allein an die Feindbestimmung gebunden ist. Genau hier knüpft der Internationalismus-Begriff an, der bis heute in vielen linken Strömungen identitätsstiftend wirkt.

Schon seit Längerem kursiert in verschiedenen Teilbewegungen die Formel »Palestine is a [X] issue«, wobei das »X« nahezu beliebig ist: Feminismus, Klima, Queerness, Arbeitskampf, Rassismus, vegane Ernährung, sogar das »Superman”-Franchise – alles scheint unauflöslich mit einer einseitigen Position im arabisch-israelischen Konflikt verknüpft. Was sich hier andeutet, ist mehr als nur ein taktisches Versagen. Es ist ein strategischer Offenbarungseid.

In der jüngeren Vergangenheit haben sich die großen Versprechen der Linken in den eigenen Gesellschaften – soziale Gerechtigkeit, kollektive Emanzipation, demokratischer Sozialismus – als uneinlösbar erwiesen. Nicht weil sie falsch waren, sondern weil der Boden für ihre Umsetzung bröckelte: ökonomisch, politisch, kulturell. Stattdessen hat sich linke Politik in den kapitalistischen Alltag und dessen Verwertungslogik eingefügt, ja sogar bequem eingerichtet: in NGOs, Diversity-Workshops, Wahlkampagnen und kritischen Studiengängen. Die Revolution, so musste man feststellen, kommt nicht. Und der Kapitalismus bleibt.

Die Klimabewegung, einst Hoffnungsträgerin einer neuen jungen Linken, ist weitgehend im Sande verlaufen.

Die westliche, zumeist weiße Linke hat in den vergangenen Jahren ihre Heimspiele verloren. Wo einst die Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit, ökologische Umkehr und internationale Solidarität auch abseits vom Nahost politische Schlagkraft entfaltete, macht sich heute Ratlosigkeit breit. Die klassische Bastion der urbanen Linken, die urbanen Zentren, die Bildungsorte, die Subkulturen, sind zwar noch kulturell links codiert, aber weniger wirkmächtig geworden. Die Rechte hingegen hat längst wieder Tritt gefasst: mit nationalem Furor, Anti-Establishment-Rhetorik und einem Sozialpopulismus, der dort verfängt, wo einst linke Politik Wurzeln hatte.

Gleichzeitig ist die Klimabewegung, einst Hoffnungsträgerin einer neuen jungen Linken, weitgehend im Sande verlaufen. Nach dem medialen Hype um »Fridays for Future« und »Ende Gelände« blieb letztlich wenig übrig außer Erschöpfung und interner Spaltung. Politisch hat sich der Klimadiskurs in Heilsversprechen und Lifestyle-Moral aufgelöst. Statt einer Ökologie der Revolte blieb oft nur ein nachhaltiger Konsumrausch mit Biobaumwolle und CO2-Kompensation.

Ein Teil der Klimabewegung verlagerte seinen Fokus zunehmend auf den Nahostkonflikt. Ein bekanntes Beispiel ist Greta Thunberg, die sich seit Beginn des Gaza-Krieges häufiger zu Israel als zur Klimapolitik äußert. Damit zeigt sich eine Ausprägung linker Politik, die vor allem auf emotionale Mobilisierung, klare Gegensätze und symbolische Gesten setzt, jedoch oft ohne vertiefte Analyse gesellschaftlicher Strukturen oder des Kapitalismus.

Die Parole vom »befreiten Palästina« ignoriert innere Widersprüche

Der Terror der Hamas – einer autoritären, queerfeindlichen, frauenverachtenden und antisemitischen Organisation – wurde im Westen zum Projektionsraum revolutionärer Sehnsüchte. Nach dem 7. Oktober 2023 wurde der Angriff auf israelische Zivilistinnen und Zivilisten teils verharmlost und als »Widerstand« verklärt, als Beweis, dass es irgendwo noch ungebrochenen revolutionären Kampf gibt, während die Ideologie der Hamas ausgeblendet blieb.

An die Stelle linker Handlungsfähigkeit trat moralische Selbstvergewisserung in einem nur ausschnitthaft verstandenen Konflikt. Die Parole vom »befreiten Palästina«, die faktisch auf die Zerstörung Israels zielt, ignoriert innere Widersprüche. Eine simplifizierende Moralgrammatik – Unterdrücker versus Unterdrückte – ersetzt Differenzierung, legitimiert Gewalt und begünstigt Bündnisse mit reaktionär-islamistischen, anti-emanzipatorischen Kräften.

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Doch genau das ist die Funktion der einseitigen Palästina-Solidarität: die Einebnung von Komplexität. Ebenjene Komplexität verkennt die Linke zu weiten Teilen. Klassenkämpfe treten zurück, und im Fokus stehen die Vielstimmigkeit sozialer Bewegungen sowie multidimensionale Identitäten. Dabei hat sich die Zahl an Diskriminierungskategorien wie Geschlecht, Behinderung, Sexualität, »race« oder soziales Milieu beständig erweitert.

Die soziale Frage lässt sich nicht auf Identität reduzieren – und Identitätsfragen nicht aus ihr lösen. Somit gerät der Anspruch, eine verbindende Erzählung zu liefern, eine einfache, anschlussfähige Theorie der Befreiung für alle, zur Quadratur des Kreises. Die Linke hat einen Ausweg aus dieser Unübersichtlichkeit gesucht und ihn in Palästina gefunden. Sich selbst hat sie dabei jedoch verloren.

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