Pro Stolpersteine

Auch in München

Amelie Fried Foto: dpa

Pro Stolpersteine

Auch in München

Angehörige sollten über das Gedenken ihrer ermordeten Verwandten selbst entscheiden dürfen

von Amelie Fried  20.07.2015 18:37 Uhr

Mindestens zehn Mitglieder meiner jüdischen Familie väterlicherseits wurden von den Nazis ermordet, andere zur Emigration gezwungen oder in den Suizid getrieben. Erst 2005 erfuhr ich vom ganzen Ausmaß der Verfolgung, der meine Familie ausgesetzt war – seither engagiere ich mich für die Stolpersteine. Vom ersten Moment an erschienen sie mir als höchst überzeugende Form des individuellen Gedenkens.

Die Namen der von den Nazis Ermordeten werden ins Bild unserer heutigen Städte zurückgeholt, jeder Stein erinnert an einen Menschen, vor den Häusern, in denen diese Menschen gelebt haben und aus denen sie verschleppt wurden. Ein Stolperstein hat Signalwirkung und einen hohen Wiedererkennungswert: Jedes Mal, wenn ich irgendwo in Europa einen von ihnen aufblitzen sehe, versetzt es mir einen Stich, denn ich weiß sofort, warum er da liegt. Stolpersteine sind über das individuelle Gedenken hinaus also eine soziale Skulptur, mehr als 52.000 in 19 Ländern gibt es inzwischen, zusammengenommen bilden sie das größte Holocaust-Mahnmal der Welt.

Kompromiss Was derzeit in München stattfindet, ist eine Farce. Es sollte über die Frage abgestimmt werden, ob es – nach dem Verbot von 2004 – dort zukünftig Stolpersteine geben darf oder nicht. Nun haben CSU und SPD schon vor der Abstimmung verkündet, sie hätten einen großartigen Kompromiss ausgearbeitet: Stolpersteine blieben auch weiterhin verboten. Wer seiner Verwandten gedenken wolle, könne ja eine Tafel am Wohnhaus anbringen lassen, oder eine Stele davor. Seit wann ist ein Verbot ein Kompromiss? Das Mindeste wäre doch, dass alle drei Gedenkformen erlaubt würden, wenn man sich nicht auf die Stolpersteine einigen kann.

Das Haupt- (und einzige) Argument der Stolpersteingegner lautet, Stolpersteine seien würdelos, weil sie im Straßenschmutz lägen und man auf sie treten könne. Stolpersteine werden aber nicht auf der Straße, sondern auf Gehwegen vor Wohnhäusern verlegt, und jedes Denkmal kann betreten, beschmutzt oder geschändet werden – das kann kein Argument dafür sein, es nicht zu errichten. Gerade die Stolpersteine werden äußerst selten beschädigt (unter 0,3 Prozent, Quelle: Landeszentrale für politische Bildung Hamburg). Im Gegenteil: Sehr oft fühlen Hausbewohner sich verantwortlich für »ihre« Stolpersteine, reinigen und polieren sie und legen an Gedenktagen wie dem 9. November Blumen nieder und stellen Kerzen auf.

Gedenktafel Entscheidend ist, dass die Stolpersteine auf öffentlichem Grund liegen, damit das Gedenken nicht von der Willkür einzelner Hausbesitzer abhängig ist. Genau diese Hausbesitzer aber wird man fragen müssen, wenn man eine Gedenktafel anbringen will. Man kann sich vorstellen, wie begeistert die meisten reagieren werden. Eine Tafel mit den Namen ermordeter Bewohner könnte den Wert der Immobilie schmälern. Es könnten Fragen zu den früheren Besitzverhältnissen aufkommen, die dem heutigen Eigentümer unangenehm sind.

Ob Stelen auf Gehwegen wirklich eine Alternative darstellen, wage ich zu bezweifeln. Sie bilden gefährliche Hindernisse für Passanten, würden als Fahrradständer oder anderweitig zweckentfremdet werden und wohl eher für Verärgerung als für nachdenkliches Innehalten sorgen. Aber bei allen möglichen Zweifeln soll in dieser Frage gelten, was die Münchner Stolperstein-Gegner für sich einfordern, nämlich Respekt und Toleranz. Ich finde: Jeder Angehörige soll selbst entscheiden können. Keinem Angehörigen soll eine Gedenkform aufgedrängt werden, die er nicht möchte. Aber es soll auch keinem die Gedenkform verwehrt bleiben, die er als würdig und angemessen empfindet.

Es ist kein Geheimnis, dass die Münchner IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch eine heftige Abneigung gegen die Stolpersteine hegt, die sie bei einem Besuch der beiden großen Stadtratsfraktionen vor Kurzem noch einmal zum Ausdruck gebracht hat. Spätestens seither ist klar, dass die Stadträte mehrheitlich gegen die Stolpersteine stimmen werden, auch wenn viele anders denken. In Gesprächen mit Abgeordneten hört man jedenfalls immer wieder: »Ich hätte ja nichts gegen die Stolpersteine (oder: «Ich würde mir Stolpersteine wünschen»), aber solange Frau Knobloch dagegen ist, kann ich das öffentlich nicht äußern beziehungsweise nicht dafür stimmen.«

Empfindungen Man kann diese Rücksichtnahme auf die wichtigste jüdische Repräsentantin Münchens und Holocaust-Überlebende ehrenwert finden. Man kann aber auch fragen, warum die – wie sie selbst betont – »persönlichen« Empfindungen von Charlotte Knobloch mehr zählen, als zum Beispiel die von Peter Jordan und Ernst Grube – zwei Münchner Holocaust-Überlebende, die sich sehnlichst Stolpersteine für ihre Familien wünschen. Oder die Gefühle meines Onkels Walter Fried, der sich für seine aus München nach Auschwitz deportierten und ermordeten Eltern ebenfalls Stolpersteine gewünscht hätte.

Man kann auch fragen, wie viel Empathie mit diesem Verbot den Angehörigen anderer Opfergruppen entgegengebracht wird, die sich in München geschlossen für Stolpersteine ausgesprochen haben. Sind Sinti und Roma, Euthanasieopfer, politisch Verfolgte, Homosexuelle und andere NS-Verfolgte in München Opfer zweiter Klasse?

Viele Münchner Bürger engagieren sich aus tiefster Überzeugung für diese Form des Gedenkens und werden das weiter tun. Im Gegensatz zu den Stolperstein-Gegnern würden sie selbstverständlich andere Gedenkformen respektieren. Vielleicht sollte man aufseiten der Gegner noch einmal über die Begriffe Respekt und Toleranz nachdenken. Und aufseiten des Stadtrates darüber, was einen Kompromiss ausmacht, der diesen Namen wirklich verdient.

Die Autorin ist Schriftstellerin und Moderatorin und lebt in der Nähe von München.

Lesen Sie auch das Contra Stolpersteine von Ellen Presser:
www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/22876

USA

Kehrtwende? Trump empfiehlt Abstimmung über Epstein-Akten

Der Fall des Sexualstraftäters lässt den US-Präsidenten nicht los. Vor einer Abstimmung im Repräsentantenhaus gibt er einen überraschenden Rat an seine Partei

von Anna Ringle  17.11.2025

Extremismus

Beobachtungsstelle: Tausende christenfeindliche Straftaten in Europa

Europa gilt immer noch als christlicher Kontinent. Doch Experten warnen: Christen sind von einem Klima wachsender Intoleranz bedroht. Auch in Deutschland muss die Lage Besorgnis erregen

 17.11.2025

Judenhass

Charlotte Knobloch warnt: Zukunft jüdischen Lebens ungewiss

Die Hintergründe

 16.11.2025

Deutschland

Auktion von Besitztümern von NS-Opfern abgesagt

Im Online-Katalog waren unter anderem Dokumente und Post von NS-Verfolgten aus Konzentrationslagern sowie Täterpost zu finden

 16.11.2025 Aktualisiert

Meinung

Mit Martin Hikel geht einer, der Tacheles redet

Der Neuköllner Bürgermeister will nicht erneut antreten, nachdem ihm die Parteilinke die Unterstützung entzogen hat. Eine fatale Nachricht für alle, die sich gegen Islamismus und Antisemitismus im Bezirk einsetzen

von Joshua Schultheis  16.11.2025

Berlin

Merz verspricht Schutz jüdischen Lebens in Deutschland

Bei der diesjährigen Verleihung des Preises für Verständigung und Toleranz im Jüdischen Museum Berlin an Amy Gutmann und David Zajfman gab Bundeskanzler Friedrich Merz ein klares Versprechen ab

 16.11.2025

Meinung

Die Ukrainer brauchen unsere Hilfe

Die Solidarität mit ukrainischen Geflüchteten in Deutschland nimmt ab. Aus einer jüdischen Perspektive bleibt es jedoch wichtig, auch weiterhin nicht von ihrer Seite abzuweichen

von Rabbinerin Rebecca Blady  16.11.2025

Berlin

Angriff auf Leiter deutsch-arabischer Schule in Neukölln

Al-Mashhadani gilt als Kritiker islamistischer Netzwerke und setzt sich für einen arabisch-israelischen Austausch ein

 15.11.2025

Debatte

»Hitler hatte eine unentdeckte genetische sexuelle Störung«

Eine neue britische Dokumentation über Adolf Hitler sorgt für Diskussionen: Kann die Analyse seiner DNA Aufschluss über die Persönlichkeit des Massenmörders geben?

 15.11.2025