Die Belastungen für Jüdinnen und Juden nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 sind anhaltend hoch. Das zeigen Zwischenbefunde einer Studie, die von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gefördert wird und im Herbst veröffentlicht werden soll. Jüdinnen und Juden erlebten einen Solidaritätsentzug des gesellschaftlichen Umfelds, sagten die Studienautorinnen Friederike Lorenz-Sinai und Marina Chernivsky.
Die Studie zu den Auswirkungen des Hamas-Massakers vom 7.
Oktober für die jüdische und israelische Community in Deutschland entsteht seit Februar 2024 an der Fachhochschule Potsdam und dem Kompetenzzentrum für antisemitismuskritische Bildung und Forschung in Berlin. Bislang haben dafür 111 Personen an Interviews und Gruppendiskussionen teilgenommen.
Langzeit-Selbstbeobachtungen der Teilnehmenden zeigen, dass eine Normalisierung der massiven Einschränkungen im Alltag eingetreten sei, sagt Lorenz-Sinai. »Menschen ziehen um, verlassen Schulen, wechseln den Arbeitsplatz. Sie richten ihr Leben an dieser andauernden Bedrohungslage aus.«
Das betreffe viele Alltagsentscheidungen, etwa die Frage, wohin man reisen könne und ob man seinen Wohnort Fremden preisgebe. Studienteilnehmende berichten zudem von Befürchtungen, bei Arztterminen oder beim Friseurbesuch schlechter behandelt oder sogar angegriffen zu werden. Eine Person habe beschrieben, wie sie sich beim Hautarzt für eine Untersuchung entkleidet habe und in dem Kontext eine Diskussion zum Nahostkonflikt beginnt.
Jüdinnen und Juden würden permanent aufgefordert, Rechenschaft über ihre politische Position zum Nahost-Konflikt abzulegen. Das sei ein klassisches Muster des Antisemitismus, dicht gefolgt von einer Täter-Opfer-Umkehr, sagt Chernivsky, die das Berliner Kompetenzzentrum leitet. Sie ist außerdem Gründungsgeschäftsführerin der Antisemitismus-Beratungsstelle OFEK.
Typisch für Antisemitismus sei zudem, dass komplexe gesellschaftliche Verhältnisse auf einzelne Personen oder Gruppen projiziert würden. Jüdinnen und Juden würden für den Krieg in Gaza kollektiv verantwortlich gemacht.
Maram Stern, Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses, schrieb vergangene Woche in der »Zeit«, er werde von intelligenten und gebildeten Menschen ständig mit Israel identifiziert, nur weil er Jude sei. Weder habe er einen israelischen Pass noch jemals dort länger gewohnt. »Offensichtlich stirbt die Vorstellung nicht aus, sämtliche Juden seien in Wahrheit Israelis, ja höchstpersönlich für das Handeln der israelischen Regierung verantwortlich«, schrieb er.
Angriffe oder Ängste von Betroffenen werden zudem oft bagatellisiert oder relativiert. Institutionen seien oft nicht auf den Umgang mit Antisemitismus vorbereitet, das betreffe den Arbeitsplatz, das Gesundheitswesen, Sozialämter oder Universitäten gleichermaßen, sagt Chernivsky.
»Das Leben in Diaspora stellt für Juden und Jüdinnen eine Art Organisationsaufgabe dar.« Sie müssten stets überlegen, wo sie sich wie verhalten und wie sie sich vor Diskriminierung schützen. Das heiße aber nicht, dass sie als Opfer gesehen werden sollten.
Jüdinnen und Juden müssten nicht nur ihre Trauer über das Pogrom und damit verbundene Diskriminierung verarbeiten, sondern sie antizipierten aus historisch gewachsener Vorsicht weitere Bedrohungen, macht Chernivsky deutlich.
Lorenz-Sinai beschreibt noch eine weitere Zäsur nach dem 7. Oktober: Ein Großteil der Gesprächspartnerinnen beschreibe sich politisch als eher progressiv oder links, als liberal und feministisch. Die massive Entsolidarisierung und Täter-Opfer-Umkehr, die gerade von diesen Milieus beispielsweise auch an den Universitäten oder Kulturinstitutionen betrieben werde, werde als persönliche Verletzung und letztlich auch als »Verlust der politischen Heimat« erfahren.
Viele äußerten sogar Verständnis für die teils unwissenden und groben Reaktionen ihres Umfelds, weil viele Menschen wenig über Antisemitismus und die Geschichte des Nahen Ostens wüssten, sagt Lorenz-Sinai. Deswegen wünschten sich die Studienteilnehmer vor
allem: zwischenmenschliches Verständnis und Anteilnahme, Verständnis für ihre Sorgen um Angehörige und Freunde und für ihre Belastung durch die antisemitische Stimmungslage.
Menschen, die nicht von Antisemitismus betroffen sind, sollten intervenieren, wie bei allen Formen von Diskriminierung und Gewalt.
Antisemitische Deutungen und Weltbilder beinhalten klare Feindbilder und beruhen auf Vernichtungsideologien. »Es geht daher auch darum, die Demokratiegefährdung durch antisemitische Dynamiken zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken«, sagt Lorenz-Sinai.