Inessa Myslitska ist seit Dezember 2024 neue Vorsitzende des Landesverbandes Jüdischer Gemeinden in Sachsen-Anhalt. Zugleich ist sie Vorstandsvorsitzende der Synagogen-Gemeinde zu Magdeburg. Sie will dem Judentum zwischen Altmark, Saale und Unstrut in der Öffentlichkeit mehr Präsenz verschaffen.
Frau Myslitska, vor anderthalb Jahren konnte Ihre Gemeinde in Magdeburg die neue Synagoge eröffnen. Der Vorgängerbau war von den Nazis zerstört worden. Wie lebendig ist das Gemeindeleben?
Wir sind sehr glücklich, dass wir das neue Gotteshaus von unserer Landesregierung mit sehr großer Unterstützung unseres Fördervereins erhalten haben und für unsere religiösen und sozial-kulturellen Zwecke nutzen können. Es ist sehr schön zu sehen, wie die Menschen zu Gottesdiensten und zu verschiedenen Veranstaltungen kommen. Das Interesse der Menschen gegenüber unserer Religion ist sehr groß.
Auch in Dessau konnte 2023 eine neue Synagoge eröffnet werden. Sind das für Sie Hoffnungszeichen, dass jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt weitergeht?
Wir haben eine sehr große Hoffnung. Die beiden neuen Gotteshäuser bieten ganz neue Möglichkeiten als Begegnungsstätte. Für die Gemeinden in Magdeburg und Dessau ist das ein sehr großes Zeichen, dass sie Bestandteil dieses Landes sind - in religiöser, aber auch sozio-kultureller Hinsicht. Wir planen viele Veranstaltungen, unter anderem in diesem Jahr wieder die Jüdischen Kulturtage. Die Zukunft hängt natürlich von der jüngeren Generation ab. Es ist für uns sehr wichtig, dass jüngere Menschen mit ihrer jüdischen Identität Teil des Gemeindelebens sind, an den Aktivitäten aktiv teilnehmen. Wir machen von unserer Seite alles Mögliche, damit sie diese Chance nutzen können.
Die christlichen Kirchen erleben seit vielen Jahren einen Mitgliederschwund, außerdem sind sie stark überaltert. Wie sieht es in den jüdischen Gemeinden in Sachsen-Anhalt aus?
Wir haben das gleiche Problem. Etwa ein Drittel unserer Mitglieder ist über 65 Jahre alt. Die jüngere Generation ist zwar auch da, sie macht etwa 30 Prozent aus. Aber sie sind oft sehr beschäftigt, berufstätig und haben nicht viel Zeit. Wir versuchen, unterschiedliche Veranstaltungen zu organisieren, etwa für junge Familien oder eine Sonntagsschule für Kinder. Wir laden zu religiösen Festen ein. Da nehmen auch die Jüngeren aktiv teil. Aber wir veranstalten auch Camps in den Ferien, zu denen viele Kinder kommen. Wir wollen, dass Kinder und junge Erwachsenen nah bei der Gemeinde sind.
Wie hat der Ukraine-Krieg die jüdischen Gemeinden verändert?
Sind die Gemeinden dadurch größer geworden?
Ja, der Krieg hat das Leben der Gemeinden sehr verändert, weil sich viele Mitglieder von diesem Krieg betroffen fühlten, besonders jene, die aus der Ukraine stammen. Sie haben oftmals dort Verwandte und Bekannte. Für die Gemeinde ist das eine Situation, die wir bewältigen müssen. Nach Magdeburg sind etwa 20 Familien aus der Ukraine gekommen, das sind deutlich weniger als in den 1990er-Jahren.
Welche Unterstützung und Hilfe bieten die Gemeinden jüdischen Einwanderern an?
Wir haben sowohl jüdischen Einwanderern als auch Geflüchteten direkt nach Beginn des Ukraine-Kriegs eine sehr intensive soziale Betreuung angeboten. Die meisten haben kaum Deutsch gesprochen. Daher haben wir mithilfe der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland in Frankfurt am Main ein Projekt auf den Weg gebracht. Da ging es darum, die Kinder in der Schule unterzubringen, eine Wohnung zu suchen oder eine Krankenversicherung anzumelden.
Auch der Terroranschlag der Hamas auf Israel vom 7. Oktober
2023 hat vieles verändert. Inzwischen nimmt auch in Deutschland Hass gegen Juden wegen des Gaza-Kriegs zu. Spüren Sie das auch in Sachsen-Anhalt?
Dieses Ereignis hat unser Leben hier stark verändert. Wir mussten neu mit diesem Schmerz und dieser Verzweiflung leben. Nach einer großen Solidaritätswelle mit uns und Israel hat sich mittlerweile die Täter-Opfer-Rolle umgekehrt. Und wir haben wieder verstanden: Genauso wie in den dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte sind wir als Juden angeblich wieder schuld. Zwar haben wir in Magdeburg nicht so eine starke Präsenz der Palästina-Bewegung wie in Berlin oder Frankfurt. Wir haben unmittelbar nach dem Anschlag einige antisemitische Vorfälle erlebt und sie angezeigt. Sie sind in Magdeburg, Dessau oder Halle aber nicht massenhaft. Es sind eher die antiisraelischen Meinungen und die Stimmungen, etwa an den Universitäten, die uns Sorgen machen.
Erleben Sie auch Hasskriminalität, beispielsweise Drohanrufe, -mails oder Graffiti?
Zu unserem großen Glück haben wir das nach dem 7. Oktober 2023 nicht massiv erlebt. Als vor einigen Jahren die Beschneidungsdebatte öffentlich geführt wurde, haben wir sehr viele beleidigende Briefe per E-Mail und per Post erhalten. Wir haben aber keine offene Hasskriminalität erlebt. Dennoch haben sich nach Angaben der Meldestelle für Antisemitismus RIAS die antisemitischen Vorfälle in Sachsen-Anhalt im vergangenen Jahr verdreifacht. Auf dem jüdischen Friedhof in Dessau wurden mehrere Fälle von rechtsextremen Schmierereien, zum Beispiel Hakenkreuze, und Beschimpfungen in arabischer Sprache, festgestellt. Auf dem Friedhof in Haldensleben wurden die Bronzetafeln gestohlen. Und mehrere Stolpersteine wurden landesweit entfernt oder beschädigt. Die Mesusa, eine Kapsel mit Gebetsrolle an der Wohnungstür unseres Rabbiners, wurde angezündet und damit entweiht. Wir erstatten die Anzeigen gegen unbekannt - doch diese Unbekannten lassen sich nie finden und werden nie für ihre grausamen Taten bestraft. Das bereitet uns große Sorgen.
Was ist für sie die größere Bedrohung: Die Wahlerfolge der AfD oder die Zuwanderung aus islamisch geprägten Ländern?
Ich glaube, beides hat seine negativen Seiten, die für uns als Juden eine Bedrohung bedeuten. Das Programm der AfD ist auch für uns als Minderheit bedrohlich. Bei der letzten Bundestagswahl gab es eine große Zahl von AfD-Wählern. Man kann sich Gedanken machen, was uns im nächsten Jahr bei der Landtagswahl zu erwarten hat. Aber wir hoffen, dass die demokratischen Parteien genug Kraft haben, zu den Menschen zu gehen und ihnen die fundamentalen Prioritäten und Werte zu vermitteln, die für alle Menschen gelten - unabhängig von der Religion. Was die Zuwanderung betrifft: Viele unserer Mitglieder leben schon seit über 20 Jahren in Deutschland und sind mehrheitlich sehr politisch interessiert. Wenn sie die Bilder aus Berlin sehen, wo auf antiisraelischen Demonstrationen Flaggen mit »Juden raus«-Parolen zu sehen sind, empfinden sie das als sehr große Bedrohung. Wir sind hier in Magdeburg in unserem Gotteshaus sehr gut beschützt und sind der Polizei sehr dankbar. Die Menschen fühlen sich in der Synagoge sicher, aber draußen ist die Situation anders.
Sie sind seit Dezember neue Vorsitzende des Landesverbandes Jüdischer Gemeinden in Sachsen-Anhalt. Was haben Sie sich als Schwerpunkte für Ihre Arbeit vorgenommen?
Wir haben unsere Struktur etwas geändert. Ich habe jetzt mit Rimma Fil als Geschäftsführerin eine sehr treue Mitstreiterin. Unsere Aufmerksamkeit wollen wir den Tagen jüdischer Kultur widmen. Wir wollen unser Netzwerk ausbauen und uns in der Öffentlichkeit stärker zeigen, um das Interesse der Menschen für unserer Kultur und Traditionen weiter zu steigern. Außerdem wollen wir das interkulturelle und interreligiöse Gespräch ausbauen, damit wir mit Vertretern anderer religiöser und kultureller Kreise die Zukunft in unserem Land aufbauen können. Mit der Landesregierung sind wir im Gespräch, um den bestehenden Staatsvertrag zu verlängern.
Das Gespräch mit der Vorsitzenden des Landesverbandes Jüdischer Gemeinden in Sachsen-Anhalt führte Oliver Gierens.