»Müssen wir wieder die Koffer packen«? Mit Blick auf den Titel und in Gedanken an Sydney will ich voranstellen: Vielleicht ist schon die Frage falsch gestellt.
Nicht ob wir die Koffer nicht zumindest hervorholen sollten, wie Professor Michael Brenner schon 2019 nach dem Anschlag von Halle empfahl, müssen wir diskutieren. Wenn wie heute in Sydney etliche Menschen, darunter Kinder, ermordet werden, nur weil sie Juden sind und in der Öffentlichkeit ein jüdisches Fest feiern wollten, müssen wir vielmehr fragen: Wo sollen wir hin mit unseren gepackten Koffern?
Auch ich habe darauf keine Antwort. Ich weiß aber: Es werden auch wieder Momente der Hoffnung kommen, wenngleich es mir heute wirklich schwer fällt, sie kommen zu sehen. Unser Gemeindewochenende war heuer so umfangreich und so gut besucht wie noch nie. Es war ein unübersehbares Ausrufezeichen des jüdischen Lebens hier in München. Trotzdem rechnet niemand damit, dass wir diese dynamische Gegenwart ungebrochen in die Zukunft fortschreiben können.
Die begrenzte Normalität ist nur mit umfassenden Sicherheitsmaßnahmen zu haben. Ja, wir diskutieren frei. Aber wir tun es hinter dicken Mauern und Panzerglas. Das ist die Split-Screen-Realität des jüdischen Lebens, nicht nur in München.
Auf der einen Seite sehen wir barbarische Angriffe wie den in Sydney oder den 7. Oktober 2023 in Israel. Wir sehen die Mörder und ihre Taten, und wir wissen ganz genau, dass wir als jüdische Menschen mitgemeint sind. Egal, wo wir leben.
Es werden auch wieder Momente der Hoffnung kommen.
Charlotte Knobloch
Auf der anderen Seite dürfen wir auch nicht übersehen: Es geht uns durchaus gut. Erst vor wenigen Tagen hat mich ein amerikanisch-jüdischer Journalist kontaktiert, der an einem Stück über Chanukka-Feierlichkeiten in aller Welt arbeitete. Ihn interessierte, ob die jüdischen Menschen sich in ihren Gemeinden damit öffentlich noch sicher fühlten.
Sinkendes Sicherheitsgefühl
Was er nicht mehr hinzufügen musste und was heute noch einmal auf schreckliche Weise bestätigt wurde: Die allermeisten Menschen tun das nicht mehr. Doch für München konnte ich ihm nur antworten, dass wir zwar weiter wachsam sind, dass hier aber in diesem Jahr sogar noch eine weitere öffentlich sichtbare Chanukkia aufgestellt worden ist. Es ist bereits die vierte in der Stadt.
Dennoch sinkt unser Sicherheitsgefühl. Jüdische Menschen bewegen sich heute in einer Welt, in der die Grund-Aggressivität gegen alles Jüdische massiv gewachsen ist. Die Vorwände ändern sich zwar. Aber eine Ablehnung Israels war in den letzten zwei Jahren häufig die Herdplatte, auf der der antisemitische Hass hochgekocht ist. Das Ergebnis bleibt in jedem Fall dasselbe: Jüdische Menschen sind Ziele. Alle spüren wir diese Bedrohung.
Jüdische Menschen bekommen mit, wie radikal sich die öffentliche Meinung wandelt, sobald das Reizwort Israel fällt. Sie wissen, dass jedes freundliche Gespräch im Restaurant oder in der U-Bahn zum Thema Nahost stets nur eine einzige Bemerkung davon entfernt ist, ins Feindselige zu kippen. Und sie haben berechtigte Zweifel daran, dass ihrer nichtjüdischen Umwelt wirklich bewusst ist, wie existenziell diese Unsicherheit für sie ist.
Können wir in Deutschland akzeptiert werden? Ja, können wir
Kann man in einem Land leben, in dem man von jedem seiner Nachbarn und Freunde annehmen muss, dass er die eigenen Sorgen nicht versteht? Ja, man kann. Glauben Sie mir, ich habe es jahrzehntelang probiert.
Aber kann man sich in einem solchen Land auch wirklich akzeptiert und zuhause fühlen? Kann man Teil einer Gesellschaft sein, die einen so wesentlichen Aspekt unserer jüdischen Realität heute nicht wahrhaben will? Das kostet Kraft. Nicht jeder hat diese Kraft. Und dabei spreche ich noch nicht gar nicht von den Abwehrschlachten, die nötig geworden sind, weil diese wachsende Radikalität der Gesellschaft auf beiden Seiten des politischen Spektrums gewachsen ist.
Neben einer oft eher links verorteten Feindseligkeit gegenüber dem jüdischen Staat hat eine extreme Rechte wieder eine Gestalt angenommen, wie wir sie lange nur aus Schwarzweiß-Fotos kannten. Genau wie das historische Vorbild stört sie sich, trotz aller säuselnden Rhetorik, am Jüdischen als solchen. Ihr Anwachsen allein ist Grund genug, die Zukunftsfrage zu stellen.
Die falschen Freunde am rechten und die echten Feinde am linken Rand sorgen in seltener Eintracht dafür, dass die Eisscholle, auf der wir jüdisches Leben in Deutschland dauerhaft sichern und gestalten können, immer weiter dahinschmilzt. Längst sind wir wieder zurück in der Grauzone, die wir aus der jüdischen Geschichte nur zu gut kennen: Ein Leben in relativer Sicherheit, die aber relativ stark abnimmt.
Und doch, so schwer es fällt und so viel Kraft es kostet, bleibe ich dabei: Schwarzmalerei und Pessimismus sind ein Luxus, den wir uns nicht leisten können und nicht leisten dürfen. Als jemand, der in diesem Land unbeschreibliche Abgründe gesehen und am eigenen Leib erlebt hat, will ich daran erinnern, dass selbst der scheinbar abwegigste Optimismus am Ende Recht behalten kann.
Nicht im Chor der Pessimisten mitsingen
Deutschland hat bewiesen, dass es sich im Zaum halten kann. Dass es eine jüdische Heimat sein kann, und sein will. Und die jüdische Gemeinschaft in aller Welt ist nicht so schwach und hilflos, wie sie es lange Zeit war. Das werden wir auch nie wieder sein.
Deshalb glaube ich daran, dass selbst die finstersten Zeiten wieder vorbeigehen werden. Es kommen wieder Momente der Hoffnung. Auf die Dunkelheit, in der wir Chanukka feiern, folgt Jahr für Jahr die Rückkehr des Lichts. Die Lichter verlöschen niemals ganz. Wenn wir nicht wollen, dass am Ende die negativen Voraussagen eintreffen, sollten wir vor allem darauf achten, dass wir unsere Hausaufgaben erledigen – nach außen und nach innen.
Im Chor der Pessimisten dürfen wir deshalb für meine Begriffe nicht hörbar am lautesten singen. Denn tun wir es, sorgen wir dafür, dass die Abgesänge auf uns Wirklichkeit werden.
Wir müssen aber auch nicht katzbuckeln. Wenn wir als Juden angegriffen werden, dann können und dürfen wir reagieren: als jüdische Bürger dieses Landes.
Charlotte Knobloch (93) ist seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern und seit 2005 Ehrenbürgerin der Stadt München. Von 2006 bis 2010 war Knobloch Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Dieser Essay beruht auf einer Rede der IKG-Präsidentin beim Gemeindewochenende am 14. Dezember 2025.