Der Terroranschlag in Sydney hat Juden weltweit zutiefst erschüttert. Ich selbst hadere in den vergangenen Tagen damit, die grauenhaften Bilder vom Bondi Beach mit einem ganz anderen Bild zu verbinden, das ich mir erst vor Kurzem in Sydney machen durfte.
Nur eine Woche vor dem Angriff war ich als Mitglied einer Delegationsreise der »J7«, einem Zusammenschluss der sieben größten jüdischen Gemeinschaften außerhalb Israels, in Australien und habe die dortige jüdische Gemeinschaft kennengelernt. Was ich dort sah, war eine offenherzige, vitale und selbstbewusste jüdische Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft, die stolz darauf ist, ihre Religion offen auszuleben und die sich seit jeher kaum Gedanken über Judenfeindschaft machen musste.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entschlossen sich zahlreiche Juden, nach Australien auszuwandern. Die überwiegend aus Deutschland, Polen und Ungarn stammenden Schoa-Überlebenden hofften, am anderen Ende der Welt den Schrecken hinter sich zu lassen und fernab der konfliktbehafteten Heimat ein neues, friedliches Leben aufzubauen. Durch diese Zuwanderung verdoppelte sich die jüdische Bevölkerung in Australien schlagartig. Bis heute hat Australien den höchsten Anteil an Holocaust-Überlebenden außerhalb Israels relativ zur Gesamtbevölkerung.
Antisemitismus war für australische Juden über Jahrzehnte eher ein Fremdwort. Der 7. Oktober 2023 markierte einen Bruch.
Auch sonst war Australien über die Jahre immer wieder ein Zufluchtsort für Juden aus der ganzen Welt. Mehr als 80 Prozent der rund 117.000 Juden in Australien stammen heute aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil immigriert ist. Zehntausende Juden wanderten aufgrund des Apartheidsregimes in den 1980er und 1990er Jahren aus Südafrika nach Australien aus. Die australische und die südafrikanische jüdische Gemeinschaft sind, bedingt durch die relative geografische Nähe, eng miteinander verbunden.
Der konstante Zuwachs aus dem Ausland und die Abgeschiedenheit Australiens haben dazu beigetragen, dass sich die jüdische Gemeinschaft dort über lange Zeit hinweg zu einer bunten und stolzen Familie entwickelt hat. Allein in Melbourne, wo die größte jüdische Gemeinde ist, gibt es rund 70 Synagogen, die allen religiösen Bedürfnissen gerecht werden. Antisemitismus war für australische Juden über Jahrzehnte eher ein Fremdwort.
Umso dramatischer ist der Bruch, den der 7. Oktober 2023 für Juden in Australien bedeutete. Zwar gab es auch vor dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vereinzelte antisemitische Vorfälle, aber die Zahlen waren im weltweiten Vergleich niedrig, die Vorfälle nicht gewalttätig. Seitdem sind antisemitische Vorfälle in Australien um das Fünffache gestiegen. Juden sehen sich mit Vandalismus, Brandstiftungen und körperlichen Übergriffen konfrontiert.
Seit zwei Jahren lernen sie schmerzlich, was es bedeutet, nicht nur ihre Gemeinschaft, sondern auch ihre Sicherheit ins Zentrum ihres Handelns rücken zu müssen – und das lange vor dem Anschlag in Bondi Beach. Die jüdische Gemeinschaft in Australien artikuliert lautstark, dass sie sich von ihrer Regierung allein gelassen fühlt. Die markigen Worte der Regierung gegenüber Israel und das Handeln in Bezug auf die eigene jüdische Gemeinschaft standen in den letzten Jahren in einem starken Missverhältnis.
Wer die australische jüdische Gemeinschaft kennenlernt, sieht aber weder Resignation noch Verbitterung. Es sind stolze Australier und stolze Juden. Es bleibt zu hoffen, dass die australische Regierung endlich aufwacht und ihre jüdischen Bürger künftig besser schützt.
Der Autor ist Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland.