Essay

Aufstand der Moralapostel

Louis Lewitan Foto: Ruggero Gabbai

Trotz Dauerregen, Sommerflaute und halbleeren Theatern und Kinos haben sich mittlerweile 360 Kulturschaffende  – früher nannte man sie einfach Künstler – positioniert. Mutig war das. Sehr mutig sogar. Schließlich mussten unsere Kulturschaffenden »Israel-Kritik« üben. Und das in Deutschland. Eine echte Mutprobe, nicht wahr?

Ironie beiseite: So wie der offene Brief klingt heute Zivilcourage. Bequem folgt sie dem Mainstream, Kufiya inklusive. Es ist eine wohlig in der warmen Decke moralischer Selbstvergewisserung eingebettete Heldentat. Endlich, endlich darf man wieder sagen, was man lange nicht sagen durfte, was aber längst mal wieder gesagt werden musste.

Worte allein retten keine Leben

Gleich zu Beginn des Appells steht eine tiefe Erkenntnis: »Worte allein retten keine Leben.« Und weil Worte allein nicht genügen, schreibt man einen Brief. Nicht irgendeinen und auch nicht an irgendjemanden. Man schreibt einen offenen Brief, an den Bundeskanzler höchstpersönlich. Wäre ein verschlossener Brief auf taube Ohren gestoßen?

Und was unsere Kulturschaffenden fordern, hat richtig Substanz: ein totales Waffenembargo gegen Israel! Keine U-Boote und Panzerabwehrwaffen, mit denen auf Zivilisten gefeuert werden kann! Das macht Eindruck. Auch wenn in Wahrheit diese Waffen gar nicht in Gaza zum Einsatz kamen.

Eine weitere, ebenso unverhandelbare Botschaft des offenen Briefes lautet: Ein sofortiger Waffenstillstand muss her in Gaza. Sie ist einfach brillant, diese Forderung. Auf eine solche Idee ist bisher noch niemand gekommen. Der donnernde Appell aus Deutschland muss die Hamas tief beeindruckt haben. Denn seither schweigt sie - und veröffentlicht nur noch Bilder aus Gaza: Trümmer, Hunger, Elend, soweit das Auge reicht.

Aber ernsthaft: Die Tragödie dort spielt der nekrophilen Terrororganisation, die den Märtyrertod huldigt und finanziell belohnt, in die Hände. Denn deren zerstörerische, antiwestliche Macht fußt auf vier grausamen Säulen: dem Tod Unschuldiger, dem Elend der Hungernden, dem Mitleid der Welt und den Geiseln, die sie seit fast zwei Jahren festhält.

Gewiss, Israel trägt als Besatzungsmacht Verantwortung für die katastrophale Lage der Menschen vor Ort. Doch auch die Hamas trägt erheblich dazu bei, dass das Leid der Menschen nicht gelindert wird. Es ist Teil ihres Kalküls: Sie sabotiert Hilfslieferungen, hortet Vorräte und benutzt den Hunger der eigenen Bevölkerung als Waffe.

Trotz militärischer Niederlagen fühlt sie sich politisch stark wie nie. Ihrem Ziel, einen islamistischen Palästinenserstaat als Belohnung für Terror und Massenmord zu erhalten, steht sie näher denn je. Terror, Massenmord und Gewalt lohnen sich. Wer mordet, dem wird zugehört. Um so scheinheiliger wirkt es, wenn heute in Europa große Worte über Freiheit und Menschenrechte geschwungen werden – ausgerechnet von Leuten, die früher dazu schwiegen.

Echte Freiheitsliebe?

Wo waren die Kulturschaffenden, als es galt, für freie Wahlen, für Pressefreiheit und für die Freiheit der Künste in Gaza, im Jemen oder in Katar einzutreten? Wer von diesen Moralaposteln hat da den Mund aufgemacht und einen Appell verfasst? Sie werden es selbst wissen, dass man sie dort eingekerkert oder vom Dach gestoßen hätte für solche Forderungen. So viel zum Thema Aufrichtigkeit, Menschenrechte und Freiheitsliebe.

Und ob der Appell den noch lebenden Geiseln hilft, der Hölle von Gaza zu entkommen, darf bezweifelt werden. Das jüngste Propaganda-Video der Hamas zeigt den 24-jährigen israelischen Musiker und Gitarristen Evyatar David. Seit fast zwei Jahren wird er in Tunneln festgehalten. Er ist bis auf die Knochen abgemagert. Auf dem Bild sieht man ihm beim Schaufeln des eigenen Grabes.

Es ist traurig, aber wahr: Die Geiseln, darunter sieben Deutsche, sind längst zur Randnotiz verkommen. Kein Aufschrei hallt durch die Medien, keine Briefe erreichen den Kanzler, keine Mahnwachen werden für sie gehalten. Ihre Lage ist unerträglich, ihr Schicksal unbekannt. Mehr als eine ritualisierte Distanzierung von den Geiselnehmern der Hamas war offenbar nicht drin für unsere Kulturschaffenden.

Die Geiseln werden gar nicht erwähnt. Lapidar hieß es nur: »Auch wir verurteilen die grauenvollen Verbrechen der Hamas aufs Schärfste.« Diese Floskel klingt ungefähr so überschwänglich wie ein Hinweis auf Risiken und Nebenwirkungen im Beipackzettel. Pflicht erfüllt, Haken dran. Kann Empathie einseitig sein? Offenbar schon. Der Mensch kann schließlich nicht nur Atome, sondern auch seine Gefühle spalten. Dass eine klare Forderung nach der Freilassung der Geiseln fehlt, zeugt von der ganzen Hohlheit dieser öffentlich zur Schau gestellten Moral.

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Weder als die Jesiden vernichtet noch als die Kurden massakriert wurden, wurden vergleichbare Brandbriefe geschrieben. Auch nicht im Hinblick auf den Sudan, wo mehr als 522.000 Kinder seit Kriegsbeginn an Mangelernährung gestorben und 800.000 an schwerer Mangelernährung leiden. Über 24 Millionen Menschen sind weltweit akut von extremer Nahrungsmittelunsicherheit betroffen, berichten UN und das Welternährungsprogramm. Warum wird hierzu geschwiegen?

Man könnte auch fragen: Wo waren nach dem 7. Oktober 2023 eigentlich die Stimmen deutscher Schauspieler, die öffentlich und namentlich den Massenmord und die Vergewaltigungen durch die Hamas-Terroristen verurteilt haben? Da herrschte Schweigen im Scheinwerferlicht. Eine Erklärung dafür lautet: No Jews, no news.

Koscherstempel dank jüdischer Unterzeichner

Dass sich nun selbsternannte Nahost-Experten mit großem Ernst an den Bundeskanzler wenden, liegt auch an ihrer Bescheidenheit. Ein Beispiel ist der Comedian Teddy Teclebrhan, einer der Unterzeichner. Im »Spiegel« erklärt der wandelbare Rollenkomiker unumwunden: »Ich bin voll gern naiv.«

Um zu erkennen, wozu der Hass, Terror und Märtyrerkult führen, muss Teclebrhan aber nicht nach Israel fahren. Eine Fahrt nach Jamel in Mecklenburg-Vorpommern – berüchtigt als »Nazi-Dorf« – oder nach Wurzen in Sachsen würde schon reichen. Man kann nur hoffen, dass man als Deutscher mit eritreischen Wurzeln von dort heil zurückkommt.

Unter den Unterzeichnern sind auch Leo Altaras und Meret Becker. Ersterer ist Jude, Letzere spielte die erste jüdische Tatort-Kommissarin. Ihre Unterschriften wirken wie ein moralischer Ritterschlag für den Appell. Wenn Juden Israel tadeln, muss die Sache koscher sein. Dann darf man befreit im Namen der Menschlichkeit auch scharfe Israel-Kritik in die Welt hinauszuposaunen.

Mit von der Partie ist auch Ski Aggu. Laut »Spiegel« ist er ein »Prophet der Ekstase«. Seine verspiegelte Skibrille steht geradezu sinnbildlich für grenzenlose Weitsicht. Und schließlich ist da Giovanni Zarrella. Ob als Pizzabote, Schlagersänger (»La vita è bella«) oder Fußballer in der Kreisliga B hat er stets den Finger am Puls der Weltgeschichte. Wenn selbst er eine solch scharfe Note unterschreibt, dürfte einem Yahya Sinwar in der Hölle das Lachen vergehen.

Böse Zungen behaupten nun, die Unterzeichnenden seien Antisemiten. Das ist eine infame Unterstellung. Nein, sie sind keine Antisemiten. Sie sind auch keine Israel-Hasser. Sie glauben, mit ihrer Unterschrift auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Nur merken sie dabei nicht, wessen Spiel sie da spielen. Es ist das Spiel der Hamas.

Für die sind sie nützlich. Manche würden sagen: Sie sind mit ihrer Selbstüberhöhung nur nützliche Idioten. Da ist es kein Wunder, dass sich die Hamas über so viel Naivität köstlich amüsiert.

Obwohl: Würde sie sich totlachen, hätte der Appell am Ende doch noch sein Gutes gehabt.

Der Autor ist Psychologe, Coach und Publizist. Sein aktuelles Buch »Der blinde Fleck – Die vererbten Traumata des Krieges« ist im April dieses Jahres im Heyne-Verlag erschienen .

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