10. Todestag

Zwischen Erinnerung und Engagement: Günter Grass heute

Günter Grass (1927–2015) Foto: dpa

Schnauzer, Lesebrille, Pfeife - so haben ihn viele bis heute in Erinnerung. Mit der »Blechtrommel« schuf Günter Grass einen Klassiker der deutschen Literatur, für sein Lebenswerk erhielt er 1999 den Nobelpreis. Als engagierter Intellektueller hatte er zu allem etwas zu sagen, nervte manchmal, fand aber allzeit Gehör - bis seine Stimme für immer verstummte. Am Sonntag (13. April) ist es zehn Jahre her, dass Grass mit 87 Jahren in Lübeck starb. 

Geboren wurde Grass 1927 in Danzig, damals eine Freie Stadt unter Aufsicht des Völkerbundes mit einer zu 95 Prozent deutschsprachigen Bevölkerung, heute als Gdańsk sechstgrößte Stadt Polens. 32 Jahre später schrieb er den Roman, der Danzig auf die Landkarte der Weltliteratur heben sollte. 

Mehr als nur ein Schriftsteller

Bis zur »Blechtrommel« hatte Grass schon einen weiten Weg hinter sich: Kriegsdienst gegen Ende des Zweiten Weltkriegs - bei der Waffen-SS, wie er erst Jahrzehnte später zugab -, amerikanische Gefangenschaft und dann, wie Millionen andere Heimatvertriebene, einen Neustart im Westen Deutschlands. In Düsseldorf machte er ein Praktikum als Steinmetz und studierte Grafik und Bildhauerei, danach ging er an die Hochschule für Bildende Künste in Berlin.

Die Schriftstellerei sollte ihn berühmt machen, dass Grass aber mehr als nur schreiben konnte, zeigen die Grafiken, Zeichnungen, Radierungen und Plastiken, die er hinterlassen hat. 1956 debütierte er als Lyriker mit dem Gedichtband »Die Vorzüge der Windhühner«. Bald folgte sein erster Roman, und der wurde auch sein erfolgreichster.

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Der kleine Trommler Matzerath

»Die Blechtrommel«, das ist die Geschichte des Danziger Jungen Oskar Matzerath, der mit drei Jahren beschließt, nicht mehr zu wachsen. Aus seiner Kinderperspektive betrachtet er die Erwachsenenwelt, kommentiert das Geschehen mit ohrenbetäubendem Wirbel auf seiner blechernen Trommel und bringt mit seinen Schreien Glas zum Springen. Mit einer surreal-grotesken Bildersprache verarbeitete Grass Nazi-, Kriegs- und Nachkriegszeit literarisch aus einer völlig neuen Perspektive. 

Von Volker Schlöndorff 1979 kongenial verfilmt, ist die 1959 erschienene »Blechtrommel« Teil der »Danziger Trilogie«, die mit der Novelle »Katz und Maus« (1961) und dem Roman »Hundejahre« (1963) vervollständigt wurde. Auch darin geht es um die Zeit des Nationalsozialismus und den Verlust der Heimat. Schreiben gegen das Vergessen wurde zum Motto des Autors. Zu seinen späteren großen Erfolgen zählen »Der Butt« (1977), »Die Rättin« (1986) und »Im Krebsgang« (2002).

Wahlkampf für Willy Brandt

Als Grass »Die Blechtrommel« schrieb, lebte er in Paris. Ein Jahr später zog er nach Berlin ins Künstlerviertel Friedenau in die Niedstraße 13. Er war damals ein Wortführer der »Gruppe 47«, des legendären Zirkels der westdeutschen Nachkriegsliteraten. 

Er unterstützte die SPD, schrieb Reden für Parteichef Willy Brandt (Bundeskanzler von 1969 bis 1974) und rührte für diesen in den Wahlkämpfen 1965, 1969 und 1972 die Werbetrommel. Als Brandt-Nachfolger Helmut Schmidt 1982 mit einem Misstrauensvotum im Bundestag gestürzt wurde, trat Grass in die SPD ein. Als diese ein Jahrzehnt später einer Änderung des Asylrechts im Grundgesetz zustimmte, trat er wieder aus. 

»Er war ein verlässlicher Freund«

Menschen, die Grass persönlich kannten, loben seine Menschlichkeit und Großzügigkeit. »Er war nicht nur eine Bereicherung für die Literatur, sondern auch ein verlässlicher Freund, obwohl er immer ausgeteilt hat, gegen rechts und links«, sagt der Berliner Schriftsteller Hans Christoph Buch (geb. 1944), der in Grass‘ Friedenauer Nachbarschaft lebte, der Deutschen Presse-Agentur. 

Grass galt nicht nur als guter Gastgeber, sondern auch als hervorragender Koch - und als großer Tänzer, wie auf Fotos von der Nobelpreisgala 1999 zu sehen ist, wo er mit Tochter Helene übers Parkett fegt. 

Verriss vom Literaturpapst

Kopfschütteln erntete der Autor, als er sich 1990 - anders als Brandt - gegen die deutsche Wiedervereinigung aussprach. Und sein Spätwerk fand nicht mehr so viel Beifall wie seine frühen Erfolge. Bitterböse die Fotomontage auf der Titelseite des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel« 1995, wo Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki (1920-2013) das Buch »Ein weites Feld« entzwei reißt. In einem Verriss im Inneren des Blatts schrieb der Großkritiker an die Adresse des Autors, »daß ich Ihren Roman ‚Ein weites Feld‘ ganz und gar mißraten finde.« 

Erst 2006, in seinem autobiografisch geprägten Buch »Beim Häuten der Zwiebel«, enthüllte Grass seine Kriegsvergangenheit bei der Waffen-SS im Alter von 17 Jahren. Viele fanden, das komme zu spät und erinnerten daran, wie oft der Autor selbst Zeitgenossen ihre Nazi-Vergangenheit vorgehalten hatte. 

Missglücktes Gedicht

Keine glückliche Hand hatte Grass mit seinem 2012 geschriebenen Gedicht »Was gesagt werden muss«. Literarisch missglückt, bezichtigt Grass darin die »Atommacht Israel«, den Weltfrieden zu gefährden und einen atomaren Erstschlag gegen den Iran zu erwägen, der das »iranische Volk auslöschen könnte« - und dafür obendrein deutsche U-Boote zu benutzen. Freunde versuchten, ihn von einer Veröffentlichung abzubringen, vergeblich. 

Seit 1987 lebte Grass im holsteinischen Behlendorf, rund 25 Kilometer südlich von Lübeck. In Lübeck - Geburtsstadt von Willy Brandt und Thomas Mann - erinnert seit 2002 das Günter Grass-Haus an den vielseitigen Künstler. Am 14. April wird es den Verstorbenen mit der Veranstaltung »Grass for Future« auf der Kulturwerft Gollan in der Hansestadt groß feiern.

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