Literatur

Wladimir Kaminer verfrühstückt den Weltuntergang

Wladimir Kaminer in der der ‚NDR Talk Show‘ am 18. August 2023 Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress

Ein paar Sekunden haben wir noch: Zeit für ein »Frühstück am Rande der Apokalypse«. So heißt das jüngste Buch von Wladimir Kaminer, der 1967 in Moskau geboren wurde und seit 1990 in Deutschland lebt. Deutsche und Russen sind seither sein Thema. Gartenzwerge, Muckefuck und Hegel hie, die kaukasische Schwiegermutter, Tolstoi und Disko da. Geschichten mit Witz, bei denen Leserinnen und Leser amüsiert etwas lernen können.

Was macht so ein Autor, wenn die Lage plötzlich ernst wird? Er macht weiter. Aber anders als bisher. Der vergnügliche Ton, den das Publikum an Kaminers Schriften schätzt, weicht einem bitteren Humor. Es geht nicht mehr um Skurrilitäten in der Provinz (»Mein deutsches Dschungelbuch«) oder die komplizierten Verhältnisse in vielen Familien (»Rotkäppchen raucht auf dem Balkon«). Plötzlich steht der Krieg im Mittelpunkt und manchmal auch die Klimakrise.

Dinos als Künstler Katastrophen, schreibt Kaminer, hätten die Zivilisation erst möglich gemacht. Nach dem Aussterben der Dinosaurier hätten sich die Säugetiere prächtig entwickelt: »Einige von ihnen sind später zum Beispiel Künstler, sogar Schriftsteller geworden.« Und »ohne Künstler wäre der Planet zum Sterben langweilig«.

Der Schriftsteller verpackt den Schrecken kurzweilig. Er nimmt auch jene mit, die von der russischen Invasion in die Ukraine möglicherweise nichts mehr hören und sehen mögen. »Irgendwann taten die Nachrichten nicht mehr weh«, bemerkt Kaminer und stellt einige Seiten später fest: »Seit Anbeginn der Zeiten fließen die Tränen, und das Blut strömt, während anderswo die Menschen Fußball gucken und überlegen, zu welchem Weihnachtsmarkt sie gehen sollen.«

So knüpft Kaminer zwar an das aktuelle Zeitgeschehen an, bewahrt sich aber seine Liebe fürs Detail und den Blick aufs große Ganze. Wie er etwa in wenigen, eingängigen Sätzen die Jelzin-Nachfolge erklärt, kann Geschichtslehrern als Beispiel dienen. Nur die literarisch zugespitzten Zitate sollte man nicht allzu wörtlich nehmen.

Das gilt auch für die Kapitelüberschriften, die mit »100 Sekunden vor dem Weltuntergang« beginnen und sich in absteigender Reihenfolge durch das Buch ziehen. »90 Sekunden vor dem Weltuntergang! Das ist doch Quatsch! Niemand weiß, wann die Welt untergeht«, bemerkte ein Achtjähriger beim Blick in das Rezensionsexemplar. Da hat er recht. Vielleicht endet Kaminers »Frühstück am Rande der Apokalypse« deshalb mit dem Kapitel »86 Sekunden vor dem Weltuntergang«. Womöglich bleibt noch Zeit für ein zweites Frühstück.

Der Bestsellerautor (»Russendisko«) jüdischer Herkunft lebt in Berlin.

Zahl der Woche

2 Jahre

Fun Facts und Wissenswertes

 03.12.2025

Meinung

Gratulation!

Warum die Ehrung der ARD-Israelkorrespondentin Sophie von der Tann mit dem renommierten Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis nicht nur grundfalsch, sondern auch aberwitzig ist

von Lorenz Beckhardt  03.12.2025 Aktualisiert

Medien

»Antisemitische Narrative«: Vereine üben scharfe Kritik an Preis für Sophie von der Tann

Die Tel-Aviv-Korrespondentin der ARD soll mit dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis geehrt werden

 03.12.2025

Chemnitz

Sachsen feiert »Jahr der jüdischen Kultur«

Ein ganzes Jahr lang soll in Sachsen jüdische Geschichte und Kultur präsentiert werden. Eigens für die Eröffnung des Themenjahres wurde im Erzgebirge ein Chanukka-Leuchter gefertigt

 03.12.2025

TV-Tipp

»Fargo«: Spannend-komischer Thriller-Klassiker der Coen-Brüder

Joel und Ethan Coen erhielten 1997 den Oscar für das beste Originaldrehbuch

von Jan Lehr  03.12.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 4. Dezember bis zum 10. Dezember

 03.12.2025

TV-Kritik

Allzu glatt

»Denken ist gefährlich«, so heißt eine neue Doku über Hannah Arendt auf Deutsch. Aber Fernsehen, könnte man ergänzen, macht es bequem - zu bequem. Der Film erklärt mehr als dass er zu begeistern vermag

von Ulrich Kriest  02.12.2025

Streaming

Gepflegter Eskapismus

In der Serie »Call my Agent Berlin« nimmt sich die Filmbranche selbst auf die Schippe – mit prominenter Besetzung

von Katrin Richter  02.12.2025

Jean Radvanyi

»Anna Seghers war für mich ›Tschibi‹«

Ein Gespräch mit dem Historiker über die Liebesbriefe seiner Großeltern, Kosenamen und hochaktuelle Texte

von Katrin Richter  02.12.2025