Buch

Wer hat meinen Golem geklaut?

Joann Sfars neue Graphic Novel »Aspirine« fabuliert von Geistern, Hexen und Vampiren im alten Wilna

von Georg Patzer  15.12.2014 19:10 Uhr

Wenn Hexe und Vampir sich küssen Foto: Avant

Joann Sfars neue Graphic Novel »Aspirine« fabuliert von Geistern, Hexen und Vampiren im alten Wilna

von Georg Patzer  15.12.2014 19:10 Uhr

»Wir kommen wieder! Wir töten euch alle!«, ruft der Mob in Wilna. Mit Fackeln in der Hand laufen sie zum Schloss von Doktor Casaglia. Sein Diener Lionel hält sie auf, dann kommt der Schlossherr: »Die Leute bestehen darauf, das Schloss in Brand zu setzen«, sagt Lionel. »Dann muss man ihnen sagen, dass das nicht geht«, meint Casaglia. Und wirft die Flammen, die schon am Schloss hochzüngeln, auf die Meute.

Man liebt in Wilna keine Zauberer, Vampire und Hexen. Man schlägt sie tot, vertreibt sie, hasst sie. Dabei lieben und leiden sie doch wie alle anderen auch. Ferdinand, der Vampir etwa, der gerade ein Zimmer an Magda, eine Künstlerin, vermietet hat. Natürlich ist seine Ex-Freundin Liou, eine Alraune, sofort eifersüchtig. Sie stellt ihn zur Rede, aber er hört nicht richtig zu, sondern küsst sie. Erst macht Liou mit, aber dann wehrt sie sich: »Das ist typisch. Ich will mit dir reden, und du denkst nur an eines: mich anzufassen.« Und geht.

Dann wird der Vampir, während er auf der Suche nach Essen durch die Stadt fliegt, auch noch fotografiert. Von einer »umwerfenden Rothaarigen«, die sich auf einem Dach hinter einem Sims versteckt hat. Mit Blitzlicht, was Ferdinand überhaupt nicht verträgt, er »kriegt davon ophthalmische Migräne«. Also flüchtet er, findet ein offenes Fenster, dahinter eine schlafende Schöne, trinkt ein wenig von ihrem Blut, wieder ein Blitzlicht. Das ist zu viel: Ferdinand wird ohnmächtig.

skurril Der französische Zeichner und Autor Joann Sfar, berühmt geworden durch seine Graphic Novel Die Katze des Rabbiners, legt mit Aspirine, seinem neuesten Band auf Deutsch, skurrile Geschichten über Tote und Untote, Vampire, Hexen und Gespenster vor. Ferdinands Exfreundin Liou etwa mit ihrem grünen Haar, stachelig und abstehend wie eine Haube aus Ästen. Oder die rothaarige Hexe Nope, die sich nach ihren Fotoexperimenten in Ferdinand verliebt. Nicht zuletzt die titelgebenden Schwestern Aspirine und Ritaline, die eine flachbrüstig und oft traurig, die andere auf Männerfang, bis sie sich in Richard verliebt, der immer zum Wolf wird, wenn ihm eine Frau gefällt. Ein Jude ist natürlich auch dabei, ein alter Mann mit Bart, Elija, der sich einen Golem gebaut hat, mit ihm betet und Klezmermusik macht.

All die Charaktere aufzuzählen, würde zu lange dauern, ebenso wie die Geschichte in all ihren Verästelungen. Die groben Linien sind klar: Gespenster sind auch nur Menschen, mit allen Schwächen, mit allen Stärken, mit Fehlern und liebenswerten Seiten. Sie haben mit ihren Gefühlen zu kämpfen, aber auch mit ihrer Umwelt. Manche werden dabei gewalttätig, wie Doktor Casiglia, der Elija seinen Golem stiehlt, sich die Lehmfigur gefügig macht und alle Gespensterjäger umbringen lässt, in einem blutigen Gemetzel.

expressiv Schön sind wie immer bei Sfar die vielen abseitigen, fantasievollen Details, der Wort- und Situationswitz. Da spricht Nope den ohnmächtigen Ferdinand mit »Klaus Kinski« an. Es gibt einen Plattenladen, der nur Musik von Toten verkauft. Die Bände in der Bibliothek reden, ein »kleines rosa Buch« von Ernst Lubitsch gibt Verführungstipps, ein anderes kommentiert: »Was sind das für Macho-Ratschläge?«

Zwischen Ernst und Spaß schwankt Aspirine, das eigentlich aus mehreren Geschichten besteht, die lose miteinander verbunden sind, vor allem durch Ferdinand, der durch sie alle geistert. Mal sind sie grausam, wenn die Jäger einen kleinen Jungen und seinen Hund zu Tode trampeln, mal romantisch, wenn sich die Künstlerin Magda in den guten Kommissar Ehrenstein verliebt, mal philosophisch, mal traurig. Dazu passt wunderbar Sfars Stil. Er zeichnet nicht genau, nicht realistisch, er huscht eher über die Szenen und durch die abwechslungsreichen, expressiven Panels, mal in Nahaufnahme, mal als Überblick gestaltet, mit einer ausdrucksstarken, dichten, oft düsteren Atmosphäre. Im Hintergrund, wimmelt es fast immer, wirken die Figuren beweglich und bewegt, scheinen zu schwanken und zu fliegen – was ja im Fall von Hexen und Vampiren auch passt.

Joann Sfar: »Aspirine«. Übersetzt von Johann Ulrich. Avant, Berlin 2014, 224 S., 29,95 €

Musik

»Piano Man« verlässt die Bühne: Letztes Billy-Joel-Konzert

Eine Ära geht zuende: Billy Joel spielt nach zehn Jahren vorerst das letzte Mal »Piano Man« im New Yorker Madison Square Garden. Zum Abschied kam ein Überraschungsgast.

von Benno Schwinghammer  26.07.2024

Zahl der Woche

16 Sportarten

Fun Facts und Wissenswertes

 26.07.2024

Lesen!

Ein gehörloser Junge und die Soldaten

Ilya Kaminsky wurde in Odessa geboren. In »Republik der Taubheit« erzählt er von einem Aufstand der Puppenspieler

von Katrin Diehl  25.07.2024

Ruth Weiss

»Meine Gedanken sind im Nahen Osten«

Am 26. Juli wird die Schriftstellerin und Journalistin 100 Jahre alt. Ein Gespräch über ihre Kindheit in Südafrika, Israel und den Einsatz für Frauenrechte

von Katrin Richter  25.07.2024

Streaming

In geheimer Mission gegen deutsche U-Boote

Die neue Action-Spionagekomödie von Guy Ritchie erinnert an »Inglourious Basterds«

von Patrick Heidmann  25.07.2024

Bayreuth

Das Haus in der Wahnfriedstraße

Die Debatten um Richard Wagners Judenhass gehen in eine neue Runde. Nun steht sein antisemitischer Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain im Fokus

von Axel Brüggemann  25.07.2024

Sehen!

»Die Ermittlung«

Der Kinofilm stellt den Aussagen der Zeugen die Ausflüchte der Angeklagten gegenüber

von Ayala Goldmann  25.07.2024

Kommentar

Der »Spiegel« schreibt am eigentlichen Thema vorbei

In seiner Berichterstattung über das Abraham-Geiger-Kolleg konstruiert das Magazin eine Konfliktlinie

von Rebecca Seidler  25.07.2024 Aktualisiert

Literatur

Dieses Buch ist miserabel. Lesen Sie dieses Buch!

Eine etwas andere Kurzrezension von Ferdinand von Schirachs Erzählband »Nachmittage«

von Philipp Peyman Engel  24.07.2024 Aktualisiert