Essay

Wenn der Wutanfall kommt

Ein Gefühlsausbruch kann ein Zeichen dafür sein, dass der innere Druck zu hoch geworden ist. Foto: Getty Images

Nach Redaktionsschluss gehe ich meine Kinder holen. Wenn mich meine dreieinhalbjährige Tochter von Weitem sieht, rennt sie auf mich zu. Wir umarmen uns. Kaum hat sie sich aus der Umarmung gelöst, fragt sie mich: »Mama, was machen wir heute?« Das ist der Moment, von dem es abhängt, ob der Tag gut oder schlecht wird.

Was genau auf dem Programm steht, spielt indes keine Rolle. Der kleine Mensch vor mir ist voller Erwartung, dass die bevorstehende Zeit zusammen Spaß macht. Das soll sie auch. Das Problem dabei bin jedoch ich. Je nachdem, was ich tatsächlich für den Nachmittag geplant habe, ist die Enttäuschung groß oder sehr groß. Natürlich kann ich meiner Tochter auch eine Freude bereiten, wenn ich ihr sage, dass wir mit einem Freund oder einer Freundin aus der Kita verabredet sind.

Nicht täglich Zeit für »Playdates«

Aber wir haben nicht täglich Zeit für solche »Playdates«, sondern müssen zwischendurch auch mal Termine wahrnehmen, einkaufen oder andere Dinge erledigen. Oder wir gehen einfach nach Hause. Je nach Tagesform – wohlgemerkt, das Kind ist noch keine vier Jahre alt – zaubert das geplante Programm ein Strahlen ins Gesicht oder eben nicht. Dann schmeißt sich das Kind auf den Boden und beginnt zu schreien. Zehn Minuten lang. Der Empfangsraum der Kita hat sich geleert, doch wir sind immer noch da.

Wie reagiere ich adäquat? Darf auch ich meinen Gefühlen freien Lauf lassen?

Ich bin mittlerweile etwas verschwitzt und nicht mehr ganz so entspannt, wie noch eben auf dem Weg zwischen Arbeit und Abholen, als ich die letzten E-Mails abrief. Es wäre unehrlich zu behaupten, dass mich solche Szenen kaltlassen und ich sie entspannt betrachte, mich aus dem Geschehen herausnehme. Nein, ich bin mitten im Geschehen. Ich gehöre zu diesem Gefüge zwischen Mutter und Kind, ich bin ein Teil davon. Und ich weiß, dass in einer Dreiviertelstunde der Kinderchor beginnt und wir noch auf die andere Seite der Stadt fahren müssen. Das verursacht wieder Stress, obwohl ich eigentlich genügend Zeit eingeplant hatte.

Noch nicht in der »Theory of Mind«-Phase

Mir ist klar, dass ich das normalste Kind der Welt habe, das sich vermutlich noch nicht in der »Theory of Mind«-Phase befindet. Diese beschreibt die Fähigkeit, sich in die Gedanken anderer hineinversetzen zu können. Klappt das nicht, führt das mitunter zu Frustration, Wut- oder treffender gesagt, zu Vulkanausbrüchen. Meine Dreieinhalbjährige kann vielleicht manchmal schon auf die subjektive Verfassung anderer Bezug nehmen, aber eben nicht immer. Für mich ist es ein Kinderspiel, die Überzeugungen anderer mitzubedenken – für sie jedoch nicht. Das ist mir durchaus klar, und trotzdem hadere ich damit. So bedeutet der Moment eines solchen »Meltdown«, in dem sich meine Tochter bis zur Selbstauf­lösung ihrem Schreirausch hingibt, auch für mich eine Herausforderung.

Über mir schweben all jene Fragen, die ich innerlich doch längst beantwortet habe, wie eine große Gewitterwolke: Wie reagiere ich adäquat? Darf ich meinen Gefühlen auch freien Lauf lassen? Muss ich alles über mich ergehen lassen? Gibt es überhaupt die richtige Reaktion von meiner Seite?

Was andere von uns in diesem Augenblick denken, ist mir egal. Diesen Schritt habe ich längst hinter mir. Doch als Eltern von kleinen Kindern ist man konstant mit der Frage konfrontiert, ob das eigene Handeln auch den eigenen Ansprüchen entspricht. Ich weiß, dass ich eine gute Mutter bin, ich hoffe es zumindest. Aber darum geht es nicht. Jede und jeder von uns hat Vorstellungen, Werte und Ansätze, die wir im Laufe des Lebens verinnerlicht haben und die in herausfordernden Situationen mit den eigenen Kindern auf den Prüfstand gestellt werden.

Eltern werden stets mit der Frage konfrontiert, ob sie eigenen Ansprüchen gerecht werden.

Wir hinterfragen uns, ob das Konzept im Umgang mit Kindern, spätestens seit man selbst Mutter oder Vater ist, tatsächlich aufgeht. Kinder haben die Gabe, ungefiltert alles zu spiegeln, was man an sich selbst nicht wahrhaben will, ja sogar manchmal hasst. Diese Wahrheit zu akzeptieren, gleicht jedes Mal einem Kraftakt.

So fordert uns diese kostenlose Weiterbildung dazu auf, uns mit dem eigenen Scheitern auseinanderzusetzen. Hand aufs Herz, ich scheitere täglich. Mehrmals. Doch scheitere ich tatsächlich, wenn ich für fünf Minuten die Fassung verliere, weil ich zum gefühlt hundertsten Mal am Tag angeschrien werde? Oder ist es meine eigene Erwartungshaltung, die mir Mantra-mäßig sagt, dass es nicht gesellschaftskonform sei, wie emotional mein Kind reagiert?

Klare Vorstellungen von normierten Reaktionen

Der soziale Kontext, in dem man sich bewegt, definiert klare Vorstellungen von normierten Reaktionen. Dazu gehört auch die Pflicht, erfolgreich zu sein. Doch woraus resultiert mein persönlicher Erfolg? Wenn sich mein Kind von allein beruhigt? Wenn es gar nicht so weit kommt, dass es Luft herauslassen muss? Wenn ich dem Stress widerstehe und die Gewitterwolke an mir vorbeiziehen lasse? Ich weiß es nicht. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob das Leben tatsächlich in Erfolg oder Scheitern eingeteilt werden kann. Es ist ein konstantes Austarieren der eigenen Gefühle.

Ein kleines Kind im Alter von fast vier Jahren tut dies auf viel intrinsischere Art als ein erwachsener Mensch. Wir haben das verlernt. Aber das Kind hat in einem solchen Moment des Ausbruchs eine Sprache dafür gefunden, dass der innere Druck zu hoch wurde. Und welche Sprache wähle ich in diesem Moment? Vermutlich keine. Ich warte, beobachte – und nehme irgendwann mein Kind wieder in die Arme.

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