Kafka-Geliebte

»Weinen kann ich nicht mehr«

Schriftstellerin und Femme fatale: Milena Jesenská (1896–1944) Foto: dpa

Kafka-Geliebte

»Weinen kann ich nicht mehr«

Erstmals sind Schriften von Milena Jesenská aufgetaucht

von Welf Grombacher  29.06.2015 18:07 Uhr

Sie wollte ihre Gedanken niederlegen. »Ich muss noch ein Buch schreiben, das Buch, ich muss etwas Ewiges schaffen«, soll Milena Jesenská in ihren letzten Lebensjahren im Konzentrationslager Ravensbrück ihren Mitgefangenen immer wieder gesagt haben. Das Buch habe sie schon im Kopf.

Doch sie kam nicht mehr dazu, es aufzuschreiben. Jesenská starb am 14. Mai 1944 im Konzentrationslager an den Folgen einer Nierenoperation. Das Buch hat nach ihrem Tod eine andere geschrieben: Margarete Buber-Neumann, die in den letzten vier Jahren mit Jesenská inhaftiert war, veröffentlichte 1963 die Biografie Milena, Kafkas Freundin.

Antworten Als dessen Geliebte ging Milena Jesenská in die Geschichte ein. »Franz Kafkas Briefe an Milena gehören zum Schönsten in der Literatur«, titelte Die Zeit einmal. Und viel mehr als die Liebesbriefe des Prager Autors ist vom Leben der Schriftstellerin nicht übrig geblieben. Die Antworten von ihr sind bis heute verschollen.

Kennengelernt hatte sie Kafka im Oktober 1919 in einem Prager Kaffeehaus, wo sie mit Franz Werfel, Willy Haas und Ernst Pollak bis spät in die Nacht über Literatur und Politik diskutierte. Als »slawische Schönheit in wehenden Gewändern, mit gelöstem Haar, Blumen im Arm, die trotz beinahe pathetischen Ignorierens der Umgebung von erregender, elementarer, lebensvoller Schönheit« beschreibt sie ein – schwärmender – Zeitgenosse. Eine Femme fatale.

Auch Kafka schwärmt von ihr, als sie ihm ein Jahr später zum ersten Mal schreibt, weil sie Texte von ihm übersetzen will. »Sie ist ein lebendiges Feuer, wie ich es noch nicht gesehen habe. Dabei äußerst zart, mutig, klug«, notiert er im Mai 1920 im Brief an seinen Freund und späteren Herausgeber Max Brod. Ein Jahr lang schreiben sich die beiden. Sie ist zwar verheiratet, lebt mit ihrem ersten Mann Ernst Pollak mittlerweile in Wien und hat sich als Journalistin einen Namen gemacht, klagt aber Kafka – der im Sanatorium in Meran seine Tuberkulose kuriert – ihr Leid, da sie vom Gatten betrogen wird. »Geschriebene Küsse« gehen hin und her. Auch Kafkas Verhältnis zum Judentum spielt in der Korrespondenz immer wieder eine Rolle.

In den zwei folgenden Jahren besucht Jesenská den Literaten mehrmals in Prag. Der vertraut ihr Tagebücher und sein Romanfragment Der Verschollene an. Zusammen aber kommen die beiden nicht: Sie kann sich nicht von Ernst Pollak lösen, ihm ist sie zu leidenschaftlich. Kafka, schreibt Buber-Neumann, »litt unter der lebensstarken Milena, die seine ganze, auch die körperliche Liebe forderte, vor der er zurückschreckte«.

Phantom Es blieb bei der kurzen Episode. Die Jahrzehnte sind über Milena Jesenská hinweggegangen, sie blieb eine Art Phantom der Literaturgeschichte. Umso bemerkenswerter ist es, dass jetzt mehr als 70 Jahre nach ihrem Tod Briefe aufgetaucht sind, die sie in den Jahren 1940 bis 1943 aus der Haft in Dresden, Prag und Ravensbrück an ihren Vater Jan und Tochter Jana geschrieben hat.

Gefunden hat die insgesamt 14 Briefe durch Zufall die junge polnische Studentin Anna Militz bei Recherchen zu ihrer Bachelorarbeit über Milenas Tochter, die sich wie ihre Mutter einen Namen als Autorin machte. Ausgerechnet der Staatssicherheit ist es zu verdanken, dass die Briefe, die jetzt von Alena Wagnerová ediert in der Neuen Rundschau erschienen sind, erhalten blieben. Fanden sie sich doch in der Akte von Jaromir Krejcar, dem zweiten Ehemann Milenas.

Wahrscheinlich ließ Tochter Jana die Briefe 1950 in einer Gastwirtschaft liegen. Der Wirt gab den Fund in der nächsten Polizeidienststelle ab. Sie wurden an die Bezirksdienststelle der Staatssicherheit weitergeleitet, weil Krejcar republikflüchtig und zur Fahndung ausgeschrieben war. Zwar wurden, um Platz zu sparen, alle Originale vernichtet. Auf Mikrofilm fotografiert aber überdauerten sie die vergangenen Jahrzehnte.

»Umerziehung« Verhaftet wurde Milena Jesenská, die zwischen 1931 und 1935 Mitglied der Kommunistischen Partei war, am 12. November 1939, weil sie nach der deutschen Besetzung der Tschechoslowakischen Republik in den antifaschistischen Widerstand gegangen und als Fluchthelferin aktiv war. In der Haftanstalt in Dresden wartete sie auf ihren Prozess wegen des Verdachts auf Hochverrat. Zwar stellten die Nazis das Verfahren im Juni 1940 aus Mangel an Beweisen ein, weshalb sie zurück an die Gestapo-Stelle in Prag überstellt wurde. Von dort aber schickte man sie in Schutzhaft ins KZ Ravensbrück – zur »Umerziehung«, wie es hieß. Fast vier ganze Jahre verbrachte sie dort bis zu ihrem Tod.

In ihren Briefen aus dem Konzentrationslager ermahnt sie immer wieder Tochter Jana, die bei den Großeltern untergekommen ist, artig zu sein und zu gehorchen. Mit einem Rest von Hoffnung schaut sie in Dresden noch in die Zukunft. »Ich fühle mich im Sinne der Anklage unschuldig, und wäre nicht Krieg, würde ich zuversichtlich einen Freispruch erwarten.« Aber es ist Krieg. »Mein Gott, warum haben wir alle nach dem Krieg gelebt, wenn er wieder möglich ist?«, schreibt sie im Mai 1940. »Zwölf Millionen Tote im Weltkrieg – und alles umsonst! Wie viele werden es diesmal sein?« Ihr einziger Trost sind Bücher, die sie in der Haft beziehen darf.

Im Gefängnis in Prag-Pankrác sind die Umstände ernüchternder. »Auf die Toilette vor zwölf Menschen gehen müssen. Stinkende Wäsche, Wanzen, Schmutz, kein Wasser. Wenig nahrhaftes Essen, schreckliche Einsamkeit«, notiert sie im Oktober. »Lange unendliche Tage und wie viele noch. Meine Seele ist stumpfsinnig geworden. Weinen kann ich nicht mehr. Mein Gott, wie werde ich den Hass los?«

Diese erschütternden Briefe von Milena Jesenská füllen eine Leerstelle und lassen ihre Hoffnung in Erfüllung gehen, von ihren Erlebnissen zu berichten. Sie sind kein Ersatz für das Buch, das sie zu schreiben vorhatte. Aber sie lassen die Stimme dieser heute leider fast in Vergessenheit geratenen Schriftstellerin noch einmal persönlich erklingen.

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