Theater

Wehe den Modernisierern

Heute noch auf hohen Rossen: Tom Quaas als Joseph Süß Oppenheimer Foto: dpa

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Wehe den Modernisierern

Dieter Wedel schlägt in Worms den Bogen von »Jud Süß« zur Euro-Krise

von Claudia Lenssen  06.08.2012 19:59 Uhr

Ein blutiges Euro-Zeichen schlägt Alarm auf dem Programmblatt der Nibelungenfestspiele Worms. Geld, Macht, Schuld und Schulden einer anmaßenden Elite sowie ihre brutale Abwälzung auf einen Außenseiter – das sind die Themen von Dieter Wedels Polit-Drama Das Vermögen des Herrn Süß, das am Fuß des imposanten Doms in einer Neuinszenierung präsentiert wird.

In Kostümen, die an Filme der 20er- und 30er- Jahre erinnerten, und begleitet von süffisant leichter Swing-Musik, blendete das Spektakel bei seiner Premiere 2011 das Geschehen aus der Barockzeit in die uns nähere Periode vor dem Zweiten Weltkrieg, in der sich der Nazi-Terror ankündigt.

Nur im Detail zugespitzt verhandelt das aktualisierte Drama jetzt moralische Abgründe, die zu Vergleichen mit der gegenwärtigen Krise herausfordern. Vielleicht ist das Sensorium der Zuschauer für Szenen empfindlicher geworden, in denen von einer gerechteren Verteilung der Steuern die Rede ist, von in Kauf genommenen Verfassungsbrüchen durch die Herrschenden, von gezielt geschürtem Antisemitismus, wenn es um die Vertuschung eigener Versäumnisse und gravierender Schuld geht.

promi-auflauf Als veritablen Politthriller legt der um grelle Effekte nicht verlegene Regisseur Dieter Wedel die Wiederauflage seines Dramas an. Doch der Vergleich des historischen Falls des 1738 einem Justizskandal zum Opfer gefallenen württembergischen Finanzministers Joseph Süß Oppenheimer mit der aktuellen Lage an den Finanzmärkten gelingt nur verhalten.

Bei der Premiere vergangenen Freitag mit über 1.000 Gästen genoss die Prominenz aus Wirtschaft, Politik und Medien lieber einen kulinarischen Abend. Die fulminante Leistung des Ensembles um den Dresdener Theaterschauspieler Tom Quaas als Joseph Süß und Walter Plathe als seinen Freund und Gegenspieler Herzog Karl Alexander schien bei pfälzischem Winzersekt und Gourmet-Häppchen beinahe ebenso vergessen wie die Krise selbst.

Seit zehn Jahren mit regionalen Sponsorengeldern unterfüttert und als VIP-Stelldichein der Prominenz aus Politik, Theater und Fernsehen geschätzt, widmen sich die Wormser Nibelungenfestspiele getreu dem Namen den großen Geschichten, die in diesem Winkel Deutschlands verwurzelt sind. So kam es vergangenes Jahr zur Zusammenarbeit des Festspiel-Intendanten Dieter Wedel mit dem israelischen Dramatiker Joshua Sobol, die gemeinsam den historischen Justizmord an Joseph Süß Oppenheimer zu einer bösen Revue über Herrschaft, Geldgier, Rassismus und brutale Sexualität verdichteten.

reformer Das Vermögen des Herrn Süß erzählt von Aufstieg und Fall des Heidelberger Juwelenhändlers und Finanzgenies Süß, der in der schützenden Macht eines absoluten Fürsten ankommen will, um nie wieder ein Pogrom erleben zu müssen. Auf der Suche nach Akzeptanz und Aufstiegschancen gewinnt er am württembergischen Hof in Stuttgart das Vertrauen des Herzogs, bedient dessen Vergnügungssucht und entwickelt geniale ordnungs- und finanzpolitische Strategien, um die Ressourcen des Landes zu entwickeln und ein funktionierendes Steuersystem einzuführen.

Doch Süß’ Reformeifer provoziert die lokalen Patriarchen, die ihre Pfründe bedroht sehen. Nach dem plötzlichen Tod seines Dienstherrn wird Süß angeklagt, verurteilt und gehenkt, vorgeblich wegen seines Verhältnisses mit einer nichtjüdischen Magd, in Wahrheit ein Opfer der Kleinstaatpatrizier, die dem Emporkömmling eigene Vergehen in die Schuhe schieben und gezielt antisemitische Hassformeln verbreiten. Diese durch historische Forschungen belegte Interpretation löst die Figur aus dem Schatten der perfiden Umdeutung, die Veit Harlans Film Jud Süß als Paradestück antisemitischer Nazi-Propaganda lange Zeit im kollektiven Gedächtnis besetzt hielt.

Schankwirtschaft Statt der pudrigen Welt der Allongeperücken nun also ein an Dreigroschenoper-Drastik geschultes Traktat. Inszeniert als rasante Szenenfolge auf der breiten funktionalen Bühne entfaltet die Inszenierung durch Lichtwechsel, Text- und Musikeinschübe eine Art Breitwanderlebnis. Süß’ Begegnungen mit dem bullig-soldatischen Herzog, der kultiviert frustrierten Herzogin (Teresa Weißbach) und den durchweg brutal-bornierten Vertretern der Landstände werden mit Szenen in den Vorzimmern der Macht, in dumpfen Schankwirtschaften und Verschwörerzirkeln wie in einer filmischen Montagefolge gegengeschnitten.

Wuchtig aggressiv stellt die Inszenierung heraus, dass die Machtkonkurrenz der Männer der brutalen Spielregel folgt, Zugriff auf den Körper der Frauen zu gewinnen. Joseph Süß passt sich diesem Gesetz opportunistisch an, indem er die Vergewaltigung der Tochter des Ministers durch den Herzog geschehen lässt.

Das Vermögen des Herrn Süß überblendet die klassischen Gewaltszenen des bürgerlichen Trauerspiels drastisch, aufdringlich, unausweichlich, unterlegt mit Musik aus dem rechtsradikalen Untergrund von heute. Eine schrille Kolportage, die nachhallt, auch über den lauen sommerlichen Premierenabend hinaus.

»Das Vermögen des Herrn Süß«. Von Dieter Wedel und Joshua Sobol. Nibelungenfestspiele Worms, bis 31. August

www.nibelungenfestspiele.de

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