Literatur

Vom Finden, was man nicht suchte

Literatur

Vom Finden, was man nicht suchte

Gaëlle Nohant erzählt die Geschichte einer Recherche in den Arolsen Archives als Roman

von Sharon Adler  23.09.2024 17:33 Uhr

Der mit dem Grand Prix RTL-Lire 2023 Literaturpreis ausgezeichnete Roman All die gestohlenen Erinnerungen aus Frankreich beschäftigt sich mit der Suche nach Überlebenden und Verschollenen – wie auch mit deren Nachkommen und dem Versuch einer Rückgabe des persönlichen Besitzes der NS-Opfer durch die Arolsen Archives in Deutschland.

Ein Großteil – Dinge des täglichen Gebrauchs, vom Löffel bis zum Tischtuch – befindet sich bis heute in Privathaushalten oder Antiquitätenläden. Europaweit. Die Provenienz dieser Dinge zurückzuverfolgen, ist ein beinahe unmögliches Unterfangen. Etwas erfolgversprechender kann eine Recherche zu den 4700 sogenannten Effekten sein, die seit 1963 in den Arolsen Archives eingelagert sind.

Brillen, Füllfederhalter, Uhren, Briefe, Fotos, Eheringe

Es sind die letzten persönlichen Besitztümer von Menschen aus über 30 Ländern, die sie bei ihrer Verschleppung bei sich hatten. Die Arolsen Archives in Nordhessen, das internationale Zentrum über NS-Verfolgung mit dem weltweit umfassendsten Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus, 1948 von den Alliierten als International Tracing Service (ITS) gegründet, bewahren heute noch mehr als 2000 Umschläge mit persönlichen Dingen von ehemaligen KZ-Häftlingen überwiegend aus Neuengamme und Dachau auf. Darunter Brillen, Füllfederhalter, Uhren, Briefe, Fotos, Eheringe. Dinge, die für die entrechteten Menschen die letzte Verbindung mit ihren Liebsten und dem Leben vor der Deportation waren.

Die Rückgabe der Effekten ist das Ziel der Institution, knapp 1000 konnten weltweit bisher zurückgegeben werden. Um dafür zu sensibilisieren, riefen die Arolsen Archives 2016 die Kampagne #StolenMemory ins Leben. Aktuell touren vier Übersee­container durch Deutschland, Polen und Frankreich, die als mobile Ausstellungs­orte fungieren.

Mit diesem Thema befasst sich die 1973 in Paris geborene Schriftstellerin Gaëlle Nohant in ihrem Roman All die gestohlenen Erinnerungen. Durch einen Zufall stößt sie auf die Kampagne der Arolsen Archives und ist elektrisiert. Über drei Jahre bringt sie ihre Arbeit an dem Buch über eine Fülle von Archivmaterialien zu den Geschichten der Opferfamilien.

Im Zentrum des Romans steht die französische Archivarin Irène

Im Zentrum des Romans steht die französische Archivarin Irène, die beim ITS arbeitet. 2016 wird sie damit beauftragt, Gegenstände der Deportierten an die Nachkommen zurückzugeben. Darunter ist eine Puppe, die Theaterfigur eines Pierrots. Über eine Nummer in seiner Kleidung, viele Umwege und Sackgassen stößt Irène auf den 15-jährigen Lazar, der Buchenwald überlebte und dessen Spur sich in Griechenland verliert.

Es beginnt eine Suche, die sie immer tiefer in seine Biografie führt. »Ich weiß gar nichts. Ich habe nichts als diese große Lücke vor mir.« Das ist das verbindende Glied der unzähligen Briefe, die das ITS aus aller Welt erreichen. Die verzweifelte Bitte um Hilfe von Antragstellenden bei ihrer Suche nach dem Schicksal ihrer Angehörigen ist es, was Irène in ihrer akribischen Recherche antreibt.

Die von Gaëlle Nohant fiktiv angelegten Handlungen und Figuren basieren auf historischen Tatsachen: »Ich habe 200 Bücher und Zeugenberichte gelesen, Dutzende von Dokumentationen gesehen und zahlreiche Artikel und Archive durchsucht, um die Figuren und Schicksale in diesem Buch zu entwickeln.«

Dabei verarbeitet sie nicht nur die Methoden ihrer Recherche, die Suche im Dunkeln, sondern auch die Abwehrhaltung ihres Ex-Manns und seiner Eltern, die stellvertretend für die Haltung vieler nichtjüdischer Deutscher steht: »Es muss doch mal Schluss sein« oder »Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen.« Geschrieben hat Gaëlle Nohant ihren Roman besonders für junge Leser: »Dass sie sich von dem Buch angesprochen fühlen, freut mich sehr und erfüllt mich mit Hoffnung.«

Gaëlle Nohant: »All die gestohlenen Erinnerungen«. Piper, München 2024, 432 S., 24 €

Wanderausstellung #StolenMemory, September bis Dezember in Naumburg, Hamburg, Aschersleben, Immenhausen, Meschede, Villingen-Schwenningen, Betzdorf und Meppen www.stolenmemory.org

Medien

Leon de Winter wird Kolumnist bei der »Welt«

Bekannt wurde er vor mehr als 30 Jahren mit Romanen wie »Hoffmanns Hunger«. Jetzt will der niederländische Autor Leon de Winter in Deutschland vermehrt als Kolumnist von sich hören lassen

von Christoph Driessen  29.04.2025

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  29.04.2025

Fernsehen

»Mord auf dem Inka-Pfad«: War der israelische Ehemann der Täter?

Es ist einer der ungewöhnlichsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte. Die ARD packt das Geschehen in einen sehenswerten True-Crime-Vierteiler

von Ute Wessels  29.04.2025

Berlin

Antisemitismusbeauftragter für alle Hochschulen soll kommen

Details würden derzeit noch im Senat besprochen, sagte Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra

 29.04.2025

Jerusalem

Seltenes antikes Steinkapitell wird in Israel ausgestellt

Ein Fund aus dem Jahr 2020 gibt israelischen Archäologen Rätsel auf. Die Besonderheit des Steinkapitells aus römischer Zeit: Es ist mit einem mehrarmigen Leuchter - im Judentum Menorah genannt - verziert

 29.04.2025

Berlin

Jüdisches Museum erforscht Audio-Archiv von »Shoah«-Regisseur

Claude Lanzmann hat mit seiner epochalen Dokumentation »Shoah« Geschichte geschrieben. Das Jüdische Museum Berlin nimmt ein Doppeljubiläum zum Anlass, um das umfangreiche Recherchematerial des Regisseurs zu erschließen

von Alexander Riedel  29.04.2025

Köln

»Charlie Hebdo«-Überlebender stellt Comic zu NS-Raubkunst vor

»Zwei Halbakte« heißt ein 1919 entstandenes Gemälde von Otto Mueller. Die Geschichte des Kunstwerks hat der französische Zeichner Luz als Graphic Novel aufgearbeitet. Mit teils sehr persönlichen Zugängen

von Joachim Heinz  28.04.2025

Berlin

»Eine Zierde der Stadt«

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum im denkmalgeschützten Gebäude der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte eingeweiht

 28.04.2025

Paris

»Bambi«-Neuverfilmung: Nah an Felix Saltens Original

Ganz ohne Spezialeffekte und Animation: In Michel Fesslers »Bambi«-Neuauflage stehen echte Tiere vor der Kamera. Das Buch wurde einst von den Nazis verboten

von Sabine Glaubitz  28.04.2025