Er hat gar keine Ähnlichkeit mit seinen himmlischen Kollegen in den Museen weltweit, er ist weder lieblich noch kindlich, weder beschützend noch gütig, auch nicht sanft oder entrückt.
Stattdessen reißt dieser Engel den Mund auf, bleckt die Zähne, stemmt sich auf seine stummeligen Füße und schaut erschüttert in die Welt. Er ist kein geflügelter Bote Gottes, eher ein verzweifeltes Zwischenwesen und damit ein zentrales Kunstwerk, ein Sinnbild für alle Katastrophen und Umbrüche des 20. Jahrhunderts.
Dieses berühmte kleine Aquarell schuf Paul Klee 1920 und nannte es »Angelus Novus«. 1921 erwarb der Philosoph und Kulturwissenschaftler Walter Benjamin die fragile Arbeit auf Papier in einer Münchner Galerie.
Der Engel hat ihn begleitet in seinen wechselnden Berliner Wohnungen, bis Benjamin als Jude und Marxist 1933 nach Paris fliehen musste. Freunde brachten ihm zwei Jahre später Klees Meisterwerk in die französische Hauptstadt. Es inspirierte ihn 1940 zu seinen geschichtsphilosophischen Betrachtungen, den letzten Schriften, bevor er sich während der Flucht an der französisch-spanischen Grenze das Leben nahm. In diesem Text nannte Benjamin das Aquarell »Engel der Geschichte«.
Leihgabe aus dem Israel-Museum in Jerusalem
Benjamin hatte Klees Bild seinem Freund Gershom Scholem hinterlassen. Seither befindet sich diese Ikone der Moderne in Jerusalem. Kunstwerke mit solch einer Bedeutung verleiht man nicht, auch eine »Mona Lisa« bleibt im Louvre. Jetzt jedoch die große Ausnahme: eine berührende Ausstellung im Berliner Bode-Museum: Der Engel der Geschichte. Walter Benjamin, Paul Klee und die Berliner Engel 80 Jahre nach Kriegsende.
Paul Klees Original, vom Israel-Museum für neun Wochen ausgeliehen, bestimmt den Raum, in dem weitere Engel aus Kriegskontexten den Angelus Novus flankieren. Dieser verbreitet jene geheimnisvolle Aura, die schon Benjamin beschrieben hatte. Für ihn symbolisierte Klees Werk den Begriff der Geschichte nicht als Kontinuum, sondern als Blick zurück auf jene Zerstörungen, die die Kriege der Menschheit seit jeher begleiten.
Der Engel wirkt für Benjamin, »als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen«.
Für Benjamin hat die Figur ihr Antlitz der Vergangenheit zugewandt. Er schreibt in These IX seiner Betrachtungen Über den Begriff der Geschichte: »Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.«
Mit Benjamins Interpretation gewinnt das Bild eine Dimension, die allen Schrecken im Engelsgesicht erklärt. Die riesigen Augen, die vorgewölbten Zähne, die erhobenen Flügelärmchen, die wilden Papierrollen auf dem Kopf, die zackigen Krallenfüßchen. Da erblickt ein Engel die fürchterlichste conditio humana, die nie endende Gewalt des menschlichen Gegeneinanders.
Walter Benjamin sah den Fortschritt als Sturm, gegen den ein Engel sich nicht stemmen kann.
»Er möchte wohl verweilen«, schreibt Benjamin, »die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«
Der Fortschritt als Sturm, gegen den ein Engel sich nicht stemmen kann, wohl wissend, dass auch die Zukunft voller Trümmer und Zerstörungen wartet. Es ist ein zutiefst pessimistisches Aquarell, das Betrachter erschauern lässt.
Dabei konnte Benjamin, als im September 1940 sein Leben endete, die Dimensionen der Schoa und die Ruinenstädte Dresden, Berlin oder Köln höchstens erahnen. Erst später begannen die systematischen Bombardierungen. Sie sind in Klees Werk und seiner Interpretation vorweggenommen.
Ein lächelnder Engel blickt über die Ruinenlandschaft von Dresden
Und so umgeben, quasi als Bestätigung von Benjamins Gedanken, kriegsgebeutelte Engel der Kunstgeschichte Klees Bild im Bode-Museum. Beispiele: die bekannte Fotografie von Richard Peter senior »Blick vom Rathausturm nach Süden«. Ein lächelnder Engel auf der Spitze der Frauenkirche blickt über die Ruinenlandschaft von Dresden.
Ein kniender Engel aus Marmor, 1510 von Giambattista Bregno geschaffen, überlebte den Berliner Feuersturm 1945 schwer versehrt, mit Brandmalen geschwärzt und mit abgeschlagenen Händen. Von Caravaggios Gemälde eines Engels, der dem Apostel Matthäus die Hand führt, ist außer einer Schwarz-Weiß-Fotografie nichts übrig geblieben, das Werk verbrannte im Berliner Bunker, der es schützen sollte.
In Wim Wenders Film Himmel über Berlin (Ausschnitte sind in der Ausstellung zu sehen) erwähnt eine Besucherin der Staatsbibliothek Walter Benjamins Engel der Geschichte. Wir alle erinnern Otto Sander und Bruno Ganz als Engel in diesem wohl bekanntesten Berlin-Film. Das Drehbuch verfassten Peter Handke und Wim Wenders, angeregt von Klees Werk und Benjamins Text.
Tritt man aus der Ausstellung im ersten Stock des Gebäudes an der Spree, ist hinter den Fenstern das neue, das wiederaufgebaute Berlin zu erkennen, durchsetzt von den wenigen alten Gebäuden, die den Feuerstürmen standgehalten hatten. Wo Klees und Benjamins Engel der Geschichte wohl momentan weilt? In Kyjiw? Über den verbrannten Kibbuzim im Süden Israels und in Gaza? Im Sudan? Sein Blick wird entsetzt bleiben. Der Sturm der Zukunft weht ihn weiter.
Die Ausstellung ist noch bis zum 13. Juli im Bode-Museum zu sehen.