Film

Verstörend

»Ich wuchs in einem Haus voller Aktivisten auf«: der palästinensische Co-Autor Basel Adra in einer Filmszene Foto: Antipode Films

Wie stark sich die Debattenkultur nach dem 7. Oktober 2023, nach dem grausamen Terrorangriff der Hamas auf Israel, verändert hat, dafür stand die Preisverleihung der Berlinale 2024 sinnbildlich. Dort wurde No Other Land von Basel Adra, Yuval Abraham, Rachel Szor und Hamdan Ballal in der Sektion Panorama mit dem Berlinale Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet, doch über den Film selbst wurde kaum gesprochen.

Warum? Weil der palästinensische Aktivist Adra in seiner Dankesrede sagte, dass es für ihn schwer sei, zu feiern, wenn Zehntausende seines Volkes in Gaza durch Israel »abgeschlachtet« würden, und weil der israelische Journalist Abraham von »Apartheid« im Westjordanland sprach.

Angefeuert durch Äußerungen weiterer Protagonisten an dem Abend – auch der Begriff »Genozid« fiel –, folgte eine heftige Diskussion über Antisemitismus in der Kulturszene und eine Zeit, in der öffentliche Parteinahme eingefordert wurde. Abraham kritisierte scharf jene Berliner Politiker, die ihm Antisemitismus vorwarfen, auch, weil seine Familie, wie er auf Instagram mitteilte, von einem »rechten Mob« im eigenen Haus bedroht werde und er selbst Morddrohungen erhalte.

Bei der Berlinale sprach der israelische Regisseur von »Apartheid« im Westjordanland.

Eine Fußnote, in der sich eine Absurdität der Diskussion spiegelte, steuerte Kulturstaatsministerin Claudia Roth bei. Sie hatte, wie Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner auch, nach besagter Dankes­rede geklatscht, distanzierte sich aber später, indem sie erklären ließ, ihr Applaus habe nur dem »jüdisch-israelischen Journalisten und Filmemacher Yuval Abraham« gegolten, »der sich für eine politische Lösung und ein friedliches Zusammenleben in der Region ausgesprochen« habe.

Jetzt, acht Monate später, kommt No Other Land in die Kinos, und Diskussionen um dessen Perspektive sind vorprogrammiert. Im Zentrum des zwischen 2019 und Oktober 2023 gedrehten Films steht Masafer Yatta, eine Agglomeration palästinensischer Orte im Westjordanland, südlich von Hebron gelegen. Die Region wurde im Sechstagekrieg von Israel besetzt und Ende der 70er-Jahre zum Truppenübungsgelände für das israelische Militär erklärt. Seit Ende der 90er-Jahre werden palästinensische Häuser zwangsgeräumt und zerstört.

Ein 20-jähriger Prozess vor dem Obersten Gericht endete 2022 zugunsten der israelischen Armee

Ein 20-jähriger Prozess um Masafer Yatta vor dem Obersten Gericht endete 2022 zugunsten der israelischen Armee (IDF). Die Begründung des Gerichts: Es habe dort früher keine dauerhaften Siedlungen gegeben, und da ein Großteil der Kläger außerhalb der betroffenen Region gemeldet sei, seien Bautätigkeiten illegal. Mit den Massakern der Hamas vom 7. Oktober hat sich die Lage vor Ort verschärft.

No Other Land taucht ein in diese Gegend, in der aus Sicht zahlreicher dort aktiver NGOs und der in der Region ansässigen Palästinenser »Kriegsverbrechen« durch das israelische Militär begangen werden. Eintauchen ist wörtlich zu verstehen, denn in vielen Szenen wackelt die Kamera durch die karge, felsige Topografie und beobachtet, wie Bagger unter den Augen der IDF Häuser, Ställe, später auch eine Schule abreißen. Die Bewohner schreien dagegen an, Kinder schauen zu, wie ein Kinderfahrrad auf einem Schutthaufen landet, Menschen gehen mit Bannern mit der Aufschrift »Palestinian Lives Matter« auf die Straße.

Eine dramaturgische Rahmung bildet Adras Sozialisation in Masafer Yatta, von der er zwischendurch aus dem Off erzählt. Als er fünf Jahre alt war, sei sein Vater erstmals ins Gefängnis gekommen. »Ich wuchs in einem Haus voller Aktivisten auf«, sagt er.

Die verdrängten Bewohner beziehen Felshöhlen in den Bergen

Adra erinnert sich an die Zwangsräumungsbescheide und daran, wie das Gericht, das nicht ihres gewesen sei, gegen sie entschied. Die verdrängten Bewohner beziehen Felshöhlen in den Bergen und versuchen immer wieder, Häuser aufzubauen. Es sind teils heftige Bilder, zu sehen ist auch, dass Harun Abu Aram (im Januar 2021) beim Streit um einen Generator angeschossen wird. Der Fall des jungen Mannes, der danach bewegungsunfähig war und später an seinen Verletzungen starb, ging durch die Medien.

No Other Land liefert einen verstörenden Blick auf die Ereignisse in Masafer Yatta. Dem Film generell seine radikale Subjektivität vorzuwerfen, geht am Thema vorbei, denn er eignet sich offensiv den aktivistischen, suggestiven Gestus an. Abraham wirft sich in die Auseinandersetzungen, ruft immer wieder laut, dass er alles filme. In einem Interview erklärte der Journalist einmal, dass er mit seiner Kamera kämpfe: eine Idee, die dem Film, in dem immer wieder eine mangelnde Wahrnehmung durch »Mainstream-Medien« in Gesprächen thematisiert wird, eingeschrieben ist.

Die Grenzen zwischen Dokumentation und Aktivismus verschwimmen auch dadurch, dass nicht immer klar wird, was neues Originalmaterial, was Archiv- und Familienvideos und was Nachrichtenbilder sind.

Warum der Film aber, der auf Produktionsebene die Utopie des Zusammenhalts zwischen Juden und Palästinensern zelebriert und Sichtbarkeit für die Folgen einer radikalen Siedlungsbewegung schafft, in dem Augenblick, in dem die Ereignisse vom 7. Oktober als Epilog angehängt werden, den Angriff mit mehr als 1000 Toten, Tausenden Verletzten und 251 Verschleppten derart verkürzt und einseitig deutet – das erschließt sich nicht. Weder künstlerisch (weil der Film hier quasi herauszoomt und kurz seine aktivistische Subjektivität verlässt) noch moralisch.

Der Film läuft ab 14. November im Kino.

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