Kulturkolumne

Verhandeln auf Tinder

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Zu Recherche-Zwecken – und weil es gerade in meinen Lebensabschnitt passt – habe ich mich nach langer Zeit wieder auf einer Dating-Plattform angemeldet. Das Experiment begann Anfang des Jahres, als mich ein israelischer Bekannter fragte, ob ich in Deutschland online date. »Natürlich nicht« – meine abrupte Antwort kam auch aus Selbstschutz. Nach dem Gespräch stellte ich mir aber die Frage: Wie stark hat sich in den vergangenen Jahren unser Lebensraum eingeschränkt, wenn etwas so Alltägliches wie ein Profil auf einer Dating-App ein potenzielles Sicherheitsrisiko darstellt?

Also mache ich den Versuch. Einiges hat sich in den letzten Jahren gewandelt: Diskriminierungssensibel zu sein, auch wenn es nur um Unverbindliches geht, das hat sich im Selbstverständnis vieler etabliert und gehört zum guten Ton. Direkte Kommunikation, aber einvernehmlich, Freizü­gigkeit, aber mit klaren Grenzen, Dinge werden nicht vorausgesetzt, sondern erfragt – all das lässt sich aus feministischer oder progressiver Perspektive als Fortschritt bezeichnen. Diese Fortschritte sind begrüßenswert, solange sie inkludieren, anstatt Betroffene auszuschließen oder gar zu gefährden. Was aber, wenn harmlos daherkommende Signale plötzlich Eindeutigkeiten voraussetzen, wo es keine gibt?

Jan aus Österreich beendet den Satz »Das ist für mich nicht verhandelbar« mit der Wassermelone, dem Emoji, das sich als Synonym für »Free Palestine« etabliert hat. Ich möchte Jan fragen (obwohl ich nicht an ihm interessiert bin): Was meinst du jetzt damit, dass die Wassermelone für dich nicht verhandelbar ist? Selbstverständlich können wir uns darauf einigen, dass die palästinensische Zivilbevölkerung Anspruch auf Versorgung, Sicherheit, Selbstbestimmung und Frieden haben muss.

Tatsächlich führe ich gern mit fremden Menschen nuancierte und auch schwierige Gespräche. Dafür müssen aber bestimmte Grundvoraussetzungen gegeben sein.

Können wir uns auch darauf einigen, dass die Massaker, Vergewaltigungen und Geiselnahmen der Hamas am 7. Oktober 2023 kein legitimes Mittel des politischen Widerstands sind? Dass »Yalla Intifada« keine Friedensbotschaft ist? Dass Zionist kein Synonym für Nazi ist? Das ist nämlich für mich nicht verhandelbar.

Tatsächlich führe ich gern mit fremden Menschen nuancierte und auch schwierige Gespräche. Dafür müssen aber bestimmte Grundvoraussetzungen gegeben sein. Gerade deshalb sind verkürzte Positionen an Stellen, an denen es eigentlich ums Zuhören, miteinander Sprechen oder Verstehen geht, alles andere als progressive Praxis. Selbstverständlich ergibt es Sinn, dass Menschen, die von Diskriminierungen betroffen sind, ausschließen möchten, in Situationen zu geraten, in denen sie sich nicht sicher fühlen, insbesondere dann, wenn es darum geht, einen privaten oder intimen Raum miteinander zu teilen. Ich würde mir nur wünschen, dass ebendiese Regeln auch für jüdische Personen gelten. Auch Online-Plattformen sind soziale Räume – und viele davon sind für uns in den letzten zwei Jahren erheblich kleiner geworden.

Und so stellt sich auch hier die Frage, ob ein Date nicht zu einem Sicherheitsrisiko werden kann. Ein Emoji im Profil ist oft nur Selbstaufwertung und die Wassermelone per se kein antisemitisches Symbol. Aber der beiläufige Antisemitismus, der bei diesem »Signaling« mitschwingen kann, hat das gesellschaftliche Klima in den letzten Jahren grundlegend verändert.

Den Nahost-Konflikt wird Jan mit seinem Emoji nicht lösen. Ich wünsche ihm ein langweiliges Date, bei dem er nichts verhandeln muss. Diesen Luxus haben Jüdinnen und Juden längst nicht mehr. Denn ob wir wollen oder nicht: Jeder private Raum ist für uns mittlerweile auch ein politischer.

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 28. August bis zum 4. September

 27.08.2025

Sachbuch

Die Gruppe 47, Günter Grass und die ersten »Shitbürger«

»WELT«-Herausgeber Ulf Poschardt rechnet in seinem neuen Bestseller »Shitbürgertum« auch mit der Kontinuität des deutschen Judenhasses ab. Ein exklusiver Auszug

von Ulf Poschardt  27.08.2025

Filmfestspiele

Gal Gadot wird zur Hassfigur in Venedig

In einem offenen Brief verlangen 1500 Unterzeichner die Ausladung der israelischen Schauspielerin von den Filmfestspielen. Doch die hatte offenbar nie die Absicht, nach Venedig zu kommen

von Nicole Dreyfus  27.08.2025

Atlanta

Woody Allen verteidigt Auftritt bei Moskauer Filmfestival

In einem CNN-Interview legt der Regisseur und Schauspieler dar, warum er an dem russischen Event teilnahm

 27.08.2025

Essay

Übermenschlich allzumenschlich

Künstliche Intelligenz kann Großartiges leisten. Doch nicht zuletzt die antisemitischen Ausfälle von Elon Musks Modell »Grok« zeigen: Sie ist nicht per se besser als ihre Schöpfer. Ein alter jüdischer Mythos wirft Licht auf dieses Dilemma

von Joshua Schultheis  27.08.2025

Archäologie

Vorform der Landwirtschaft: Steinsicheln für die Getreideernte

Funde aus einer Höhle in Zentralasien stellen Annahmen zur Entstehung der Landwirtschaft infrage. Offenbar liegen deren Ursprünge nicht nur in der Region Vorderasien, die auch das heutige Israel umfasst

von Walter Willems  26.08.2025

Digital

Initiative von Heidelberger Hochschule: Neuer Podcast zum Judentum

»Jüdische Studien Heute« als Podcast: Das neue Angebot der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg will alle zwei Wochen Forschungsthemen aufgreifen und Einblicke in die jüdische Lebenswelt bieten

von Norbert Demuth  26.08.2025

Zahl der Woche

1902

Fun Facts und Wissenswertes

 26.08.2025

TV-Tipp

»Barbie« als TV-Premiere bei RTL: Komödie um die legendäre Puppe

Im ersten Realfilm der 1959 von Ruth Handler erfundenen Puppe ist Barbieland eine vor Künstlichkeit nur so strotzende Fantasie

von Michael Kienzl  26.08.2025