Es ist Anfang Oktober 1924, und Walter Hasenclever befindet sich in Paris. Einige Jahre zuvor war der aus Aachen stammende Autor noch einer der erfolgreichsten Dramatiker des deutschen Expressionismus gewesen. Inzwischen hat die Sachlichkeit Einzug gehalten, zusammen mit einer fragilen, angefochtenen, angefeindeten wie auch schwankenden Demokratie. Hasenclever, einst literarischer Vatermörder und Liebhaber des Pathos, legt nun elegante urbane Ironie an den Tag – wenige Jahre später sollten seine komödiantischen Bühnenstücke wie zum Beispiel Ein besserer Herr äußerst populär werden, weitere fünf Jahre später wird er dann Flüchtling sein.
Aber das weiß der Schriftsteller im Oktober 1924 noch nicht. Da beginnt der enge Freund des Paris liebenden und zur selben Zeit von dort berichtenden Kurt Tucholsky eines seiner ersten Feuilletons, die er für das boulevardeske Berliner »8 Uhr-Abendblatt« verfasst, folgendermaßen: »Ich sitze in einem kleinen Café auf dem Boulevard St. Michel im Quartier Latin und schreibe Ihnen diesen Brief mit Bleistift. Vor mir steht ein Glas Wermut, gespritzt mit Sodawasser. Das gibt die Stimmung wieder: Dämmerung. Ich denke zurück. Drei Tage bin ich in Paris, genieße die Freuden des anonymen Spaziergängers, höre Zeitungen ausrufen, die ich nicht zu lesen brauche, schwanke durch bunte Lichtreklamen, taumle durch eine Wolke Parfüm, die ein Boulevardgeschäft auf die Passanten regnen lässt, und bin glücklich über jeden Briefträger, der mich nicht erreicht.«
Immer wieder tauchen schräge Gestalten auf und stören das Paar.
Paris, siebeneinhalb Jahre später, Frühjahr 1931. Zu dieser Zeit spielt Sebastian Haffners Abschied. Die Atmosphäre in der Seine-Metropole ist noch so wie bei Hasenclever. Das Leben ist unbeschwert, Flirts liegen in der Luft. Bohemiens gibt es zuhauf. Man hungert, man kommt gerade so über die Runden. Raimund aus Berlin verbringt den letzten Tag seines zweiwöchigen Aufenthalts mit und bei Teddy. Es handelt sich um die junge Frau, in die er verliebt ist, seitdem es bei ihm ein halbes Jahr zuvor in Berlin »gefunkt« hatte.
Ein Tag voller Hindernisse
Es ist ein Tag voller Hindernisse. Immer wieder tauchen schräge Gestalten auf und stören. Einer braucht eine Hose, ein anderer will etwas übersetzen lassen, man trinkt und isst miteinander, man redet. Teddy und Raimund schaffen es noch – Pflichttermine in Paris – in den Louvre, und zwar zur »Venus von Milo«. Dann geht es weiter zu El Greco und Cimabue. Und natürlich auf den Eiffelturm.
Abends um zehn Uhr bekommt Raimund, der Rechtsreferendar ist, am Gare du Nord gerade noch seinen nach Berlin abgehenden Zug. Sein Abschiedsgeschenk an Teddy: Sie, die faule Briefschreiberin, brauche ihm nicht zu schreiben. »Ich war furchtbar verliebt in sie«, heißt es im Auftakt, den melodiös modulierten Alltagstonfall vorgebend, »und furchtbar böse auf sie und sehr verbockt und innerlich kaputt, und eigentlich war es zum Heulen, aber noch mehr war alles gleichgültig, und morgen Abend war ja sowieso alles vorbei.«
Ist das alles nun autobiografisch, weil die Hauptfigur Raimund Pretzel heißt und sein Schöpfer ebenfalls? Ja, das ist es definitiv. Der Schuldirektorensohn, der später unter dem Alias Sebastian Haffner schrieb, sollte etwas Richtiges lernen, sich dem Traum vom Journalismus und der Schriftstellerei entsagen. Also wurde es Jura. 1938 aber floh er mit seiner damals hochschwangeren Verlobten aus einer jüdischen Familie nach London und machte dort Karriere, und das ausgerechnet als Publizist. Unter seinem Alias veröffentichte er ein aufsehenerregendes Deutschland-Buch mit dem Titel Germany: Jekyll & Hyde, das bis heute viel gelesen wird.
Aus Großbritannien nach Deutschland zurückgekehrt
Nachdem der gebürtige Berliner 1954 aus Großbritannien nach Deutschland zurückgekehrt war, ließ er sich in West-Berlin nieder, wurde Korrespondent für den Londoner »Observer«. 1961 kam es zum Bruch mit der Zeitung, weshalb Haffner sich neu orientierte. Bis 1975 war er dann Kolumnist für den »Stern«, schrieb Texte für die evangelische Wochenzeitung »Christ und Welt« oder für Axel Springers konservative »Welt«, aber auch für das weit links stehende Magazin »konkret«. 1999 starb Haffner 92-jährig. Ein Jahr später wurde seine Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933, deren Manuskript aus dem Jahr 1939 stammte, zum Bestseller.
Nun, 25 Jahre später, hat Haffners in London lebender Sohn etwas zum Druck freigegeben, was das Bild des Zeithistorikers und Publizisten erweitert und ergänzt, und zwar leichte wie leichthändige sowie verspielte, von Autobiografischem durchzogene Prosa.
1931 trifft ein Deutscher eine Französin, es erscheint unbeschwert.
Das deutsche Literaturjahr 1932 hatte es in sich: Es erschien dann Lion Feuchtwangers Der jüdische Krieg und Treffpunkt im Unendlichen von Klaus Mann, Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen und last but not least im November Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee, das Kinderbuch von Erich Kästner.
Wie der editorischen Notiz von Abschied zu entnehmen ist, vermerkte Haffner auf der Titelseite des Manuskripts »18.10.32–23.11.32«, also die Zeit, in der er diese längere Erzählung schrieb. Lebendige, vergnügliche Dialoge liest man da, für einen Literatur-Novizen – sein erster Roman erschien 1929 nicht, weil der Verlag in Konkurs ging – ausnehmend lebensecht zu Papier gebracht. Es gibt allerdings Bemerkungen, gar nicht wenige, die heute erschrecken – aber ebenfalls klarsichtige Bemerkungen über Krieg und Duckmäusertum. Das Resultat ist eine feine, süß-melancholische Trouvaille aus einer tönernen Zeit.
Sebastian Haffner: »Abschied«. Hanser, München 2025, 192 S., 24 €