Die Vorfreude auf den Urlaub ist groß. Die Aussicht auf langes Ausschlafen, schwimmen gehen, gemeinsames Zelten im Garten oder einfach nur die Füße und Seele baumeln lassen wirkt fast schon so entspannend wie der Urlaub selbst. Zumindest bei Kindern.
Bei Erwachsenen ist es komplizierter. Man hat weniger Urlaubstage als der Nachwuchs, arbeitet bis zur allerletzten Minute – und dann kommt die ungeliebte Packerei mit der Befürchtung, bestimmt die Hälfte vergessen zu haben. Müde vom Endspurt der vergangenen Wochen fährt man schließlich viele Autostunden ans Meer, wobei nach wenigen Kilometern klar wird, dass der Konflikt vorprogrammiert ist. Ein Stau kündigt sich an, die Kinder langweilen sich und schlagen sich schon bald auf der Rückbank gegenseitig die Köpfe ein.
Von der langen Fahrt komplett erschöpft, gelangt man endlich ans Ziel, wo man sich nur noch in den Liegestuhl legen möchte. Am liebsten natürlich allein, aber das geht nicht. Die Tochter möchte sofort Sandburgen bauen, der Sohn Wellen reiten … Nichts ist bereichernder als Reisen, und für viele Eltern gibt es nichts Schöneres, als unbeschwerte Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Aber die Kombination von Reisen mit Kindern wird für viele Eltern zum Stresstest, Krisenbewältigung inklusive. Das eigentliche Ziel kommt zu kurz: Ruhe und Ausgeglichenheit zu finden. Woran liegt das?
Stress gibt es schon bei Stau auf der Autobahn, wenn sich die Kinder auf der Rückbank prügeln.
»Wir haben, wenn wir reisen, eine hohe Erwartung«, sagt Melanie Hubermann. Die systemische Familientherapeutin in Berlin erklärt: »Der Urlaub soll schön werden, am liebsten möglichst harmonisch, und dazu mit einem tollen Programm. Wenn die eigene Erwartung nicht erfüllt wird, kann das zu Konflikten und Unzufriedenheit führen. Hinzu kommt der zeitliche Druck, dass man vielleicht nur eine oder zwei Wochen dazu zur Verfügung hat. Aber ein Ortswechsel bedeutet immer eine Veränderung in der Alltagsstruktur. Dass Kinder darauf reagieren, ist völlig normal.«
Die ersten Tage im Urlaub sind oft anstrengend
Deshalb seien die ersten Tage im Urlaub oft anstrengend, »und das darf auch sein. Die ganze Familie muss sich in ein neues System einfinden und sich im neuen Umfeld akklimatisieren«. Wer sich das bewusst mache, habe schon viel Druck abgebaut. Hubermann, selbst Mutter von drei Kindern, plädiert dafür, in Kauf zu nehmen, dass der Wechsel vom Alltag in den Urlaub Zeit und Geduld braucht. »Der Urlaub muss ja auch nicht perfekt sein. Wenn ich das akzeptiere, bin ich schon viel ruhiger.«
Die Familientherapeutin empfiehlt, sich in den Tagen davor auf den Wechsel vorzubereiten, selbst wenn man noch im Arbeitsmodus steckt: »Das können schöne lange Essen mit der Familie sein. Oder die Kinder daran zu gewöhnen, dass sie ein wenig später ins Bett gehen. Oder man ist einfach präsenter in dieser Zeit, genießt am Morgen eine halbe Stunde länger das Frühstück zusammen, bevor man an die Arbeit geht.« Darauf reagieren auch Kinder, denn sie registrieren, wenn man als Mutter oder als Vater mehr Kraft hat, weiß Hubermann: »Natürlich finden es die Kinder großartig, wenn man sich etwas mehr Zeit nimmt, entweder für sie oder auch für sich selbst, und man dann ruhiger als im Alltag ist.«
Wenn es dann endlich mit der Reise losgeht, empfiehlt die Therapeutin und Buchautorin, die Familie in Ruhe in den Urlaub zu »navigieren«. Und zwar nicht nur im wörtlichen Sinn: Für welche Variante von Ferien man sich auch immer entscheide, es sei unabdingbar, Wünsche zu formulieren und auszusprechen – sowohl die eigenen als auch die der Kinder. »Was brauche ich? Ist es die Yogastunde am frühen Morgen, oder möchte ich einfach nur einmal am Tag ungestört ein Buch lesen? Wenn man als Eltern Bedürfnisse ausspricht, haben die Kinder Verständnis dafür. Und sie lernen es von uns.«
Wichtig sei auch, die Kinder in die Planung mit einzubeziehen, wie beim gemeinsamen Packen. »Wenn jeder seine Lieblingshose einpacken darf und man gemeinsam Pläne schmiedet, was man im Urlaub zusammen unternehmen will, ist die Ausgangslage schon viel entspannter.«
Wer seine Lieblingshose selbst einpacken und Pläne schmieden darf, ist gut vorbereitet.
Für Ruhe auf langen Fahrten empfiehlt Hubermann viele Pausen, spannende Hörbücher und »eben die Akzeptanz, dass die Fahrt vielleicht anstrengend sein darf«. Und selbst wenn das Tablet mal für eine Weile zum Einsatz kommt, »nehmen die Kinder keinen Schaden davon«. Problematisch wird Bildschirmzeit in den Sommerferien vor allem dann, wenn Kinder »davor abgestellt werden, während die Eltern noch arbeiten müssen«, sagt Maximilian Teicher, Psychotherapeut aus Zürich.
Ein großes Angebot an Ferienaktivitäten sorgt dafür, dass Kinder eine bereichernde Zeit verbringen können, insbesondere dann, wenn die Eltern noch keine Ferien haben. »Kinder sollen tun, was sie mögen. Wer bewegungsfreudig ist, soll Sport machen. Wer kreativ tätig sein möchte, geht vielleicht in einen Mal- oder Bastelkurs.«
Es ist Aufgabe der Eltern, die Kinder Neues entdecken zu lassen
Es sei die Aufgabe der Eltern, die Kinder Neues entdecken zu lassen. Trotzdem ist der Psychotherapeut genau wie Melanie Hubermann der Meinung, dass Kinder insbesondere auch in den Ferien viele Pausen brauchen: »Nichts tun, mal einfach nur herumhängen, ja sogar Langeweile verspüren, ist extrem wichtig für die Kinder und fördert ihre Kreativität.«
Damit aktiviere sich das Default Mode Network, ein Netzwerk von Gehirnregionen, die aktiv sind, wenn eine Person nicht auf die äußere Umgebung fokussiert ist und sich mit Aufgaben wie Selbstreflexion, Gedankenwandern oder der Erinnerung beschäftigt. Wer durchs Nichtstun auf neue Ideen und Spiele kommt, Geschichten erfindet und dadurch sogar wieder neue Erinnerungen schafft, dem gelingt es außerdem, Stress abzubauen und sich zu erholen. Sommerferien stehen also nicht nur für abwechslungsreiches Programm, sondern auch für Kreativität und viele Pausen, was zu neuer Interaktion führen kann.