Krimi

Tristesse in Holon

Beschreibt die Schattenseiten des israelischen Alltags: Dror Mishani Foto: Yanai Yechiel / Paul Zsolnay Verlag

Krimi

Tristesse in Holon

In Dror Mishanis »Vermisst« sucht ein depressiver Ermittler nach einem verschwundenen Jungen

von Georg Patzer  22.10.2013 07:50 Uhr

Am Dienstag ist er noch ganz normal nach Hause gekommen, am Mittwochmorgen zur Schule gegangen. Doch dort ist der 16-jährige Ofer Sharabi aus Holon nie angekommen. Als seine Mutter am Abend zur Polizei geht, wiegelt Inspektor Avi Avraham ab: »Es gibt bei uns keine Serienmörder, keine Entführungen und so gut wie keine Sexualstraftäter, die auf der Straße über Frauen herfallen. Wenn bei uns ein Verbrechen begangen wird, dann war es in der Regel der Nachbar oder der Onkel oder der Großvater, und es braucht keine komplizierte Ermittlung, um den Täter zu finden und das Geheimnis zu lüften.«

Aber dann wird es doch kompliziert. Denn Ofer ist und bleibt spurlos verschwunden. Die Mutter geht am nächsten Tag wieder zur Polizei. Die Ermittler befragen Nachbarn und Schulkameraden, gehen an die Öffentlichkeit und den wenigen Hinweisen nach, die eintrudeln. Nichts.

perfide Dror Mishanis Vermisst ist ein perfide konstruierter Krimi, mit einem etwas depressiven Inspektor in der Hauptrolle, der gerade seinen 38. Geburtstag feiert. Wobei »feiert« der falsche Ausdruck ist. Avi Avraham lässt das Jubiläum mehr oder weniger über sich ergehen, empfängt eher missmutig den Blumenstrauß, den seine Eltern ihm schicken, und lässt sich von ihnen zum Abendessen einladen. Ansonsten sitzt er in seinem kleinen, kahlen, fensterlosen Büro.

Ein Privatleben hat Avi Avraham praktisch nicht. Sein Zuhause ist eine Wartestation bis zum Dienstantritt am nächsten Tag. Der Ermittler ist eine trost- und lustlose Person, die nur auflebt, wenn es ein Verbrechen aufzuklären gibt. Und er hat schnell ein schlechtes Gewissen, sieht sich als Versager, macht sich ständig Vorwürfe. Seine Chefin Ilana lobt ihn zwar: Er sei der beste Kriminalist, den sie kenne. Doch das will er kaum glauben. Der Leser zunächst auch nicht. Denn auch im Fall von Ofer Sharabi gelingt Avraham zuerst einmal nichts.

Sein Gegenpart ist Ofers Nachbar Seev Avner, aus dessen Perspektive ein Teil des Buchs erzählt wird. Er hat dem Jungen Nachhilfestunden gegeben und drängt sich dem Inspektor regelrecht auf. Man weiß lange nicht, was er eigentlich will. Ständig reflektiert er darüber, dass mit Avi Avraham endlich mal einer da ist, der ihm richtig zuhört. Er ist enttäuscht, dass der Ermittler zuerst mit seiner Frau spricht, erkundigt sich »wie nebenbei«, wonach er sie gefragt hat. Und dann verplappert sich Avner. Nach einem anonymen Anruf, der auf eine Leiche in den Dünen hinweist (es ist aber keine da), erzählt er bei der groß angelegten Suchaktion mit Polizisten und Nachbarn von ebendiesem Telefonat, von dem er eigentlich gar nichts wissen kann. Doch Avi Avraham merkt das gar nicht. Seev ist enttäuscht.

zweifel Regelrecht hinterlistig streut Dror Mishani solche Spuren und Hinweise in den Roman, sät aber gleichzeitig bei dem genau hinschauenden Leser wieder Zweifel, ob Seev wirklich der Mörder ist. Hat Ofer die Nachhilfestunden bei ihm abgebrochen, weil Seev sich ihm sexuell genähert hatte? Oder waren es die Eltern, die glaubten, Ofer sei in der Schule wieder gut genug und brauche die Stunden nicht mehr? Viele Kleinigkeiten sprechen für Seev als Mörder, selbst aus seiner Perspektive ist nichts, was er erzählt. so ganz eindeutig Lange dauert es, bis Avraham ihm auf die Schliche kommt. Dazwischen liegen viele Verhöre, eine Trennung des Ehepaars Avner, ein Schreibseminar und viele seltsame Unterhaltungen. Aber die richtige Auflösung ist dann noch viel brutaler, als der Leser erwartet.

Vermisst ist ein widerborstiger und deshalb sehr lesenswerter Krimi, der virtuos mit den Lesererwartungen spielt und die Rollenverteilungen von Täter, Opfer und Ermittler präzise unterläuft. Der »Loser« Avi, eher ein Mitleidender als ein Ermittler, wird dabei immer sympathischer. Es sind eben nicht immer nur die Durchsetzungsfähigen erfolgreich.

Dror Mishani: »Vermisst«. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Zsolnay, Wien 2013, 351 S., 17,90 €

Justiz

Dieter Hallervorden und Diether Dehm zeigen Kanzler Friedrich Merz wegen »Drecksarbeit«-Aussage an

Mit seiner Bemerkung zu Israels Angriff auf den Iran hat Kanzler Merz für viel Zustimmung und Ablehnung gesorgt. Nun sollte sich die Justiz damit beschäftigen, meinen einige

 20.06.2025

Medien

Enkel des »Weltbühne«-Gründers übt scharfe Kritik an Verleger Friedrich

Erst kürzlich hatte der Verleger der »Berliner Zeitung« die Zeitschrift »Weltbühne« wieder aufleben lassen. Nun erhebt der Enkel des jüdischen Gründers schwere Vorwürfe gegen ihn

 20.06.2025

TV-Tipp

Robert Lembke: Schikaniert wegen seines jüdischen Vaters

Wer war der Moderator Robert Lembke? 70 Jahre nach dem Start der legendären Quizsendung »Was bin ich?« fasziniert das Dokudrama »Robert Lembke – Wer bin ich?«. Ein Schatz in der ARD-Mediathek

von Gregor Tholl  20.06.2025

Ausstellung

Die Schocken-Show

Das Jüdische Museum Berlin ehrt den Unternehmer und Verleger Salman Schocken dank eines Stars der US-Literatur

von Sophie Albers Ben Chamo  19.06.2025

Kulturkolumne

Zwischen Kotel und Kotti

Wie KI unseren Autor berühmt machte

von Eugen El  19.06.2025

FU Berlin

Sparmaßnahmen an Berliner Hochschulen treffen wohl auch Judaistik

An der Freien Universität ist unklar, ob eine Professur neu besetzt wird.

 19.06.2025

Fürth

Jüdisches Museum sucht geraubte kleine Dame

Man werde für eine Suchaktion an alle bekannten Kunstgalerien Flyer schicken und eine Anzeige in einer überregionalen Tageszeitung aufgeben

 18.06.2025

Sachbuch

Zweistaatenlösung, erster Versuch

Oren Kessler zeigt, wie sich bereits 1936 ein Grundmuster des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern herausbildete

von Ralf Balke  18.06.2025

Zahl der Woche

8. Platz

Fun Facts und Wissenswertes

 18.06.2025