Mit den Themen Holocaust-Gedenken, Zugehörigkeit von Muslimen zur deutschen Gesellschaft und »Diskurs über ›muslimischen Antisemitismus‹« schreibt sich die Studie der Anthropologin Esra Özyürek in die jüngsten Debatten um die deutsche Erinnerungskultur ein. Der Titel Stellvertreter der Schuld bringt die These auf den Punkt, dass die muslimische Bevölkerung in Deutschland eine zentrale Rolle dabei spielt, wie »ethnische Deutsche« mit der Erinnerung an die Schoa umgehen.
Um zu verstehen, warum ein Buch, in dem »so gut wie alles falsch« ist (so Thomas Thiel in der FAZ), überhaupt übersetzt wurde, ist es hilfreich, einen Blick auf den Kontext der deutschen Erinnerungskultur zu werfen, die seit einiger Zeit Gegenstand einer neuen Art von Kritik ist. Denn die lautstarke Forderung nach »multidirektionaler« Erweiterung dieser Erinnerungskultur geht von denselben Annahmen über das vermeintlich »dominante Holocaust-Erinnerungsregime« (Rothberg) und über Zugehörigkeit und Ausgrenzung in der multiethnischen Gegenwart aus wie Özyüreks Studie.
Seltsam anachronistisch
Ebenso wie diese Diskussionen wirkt auch die daran anschließende Studie von Özyürek in mancher Hinsicht seltsam anachronistisch. Die Idee beispielsweise, dass Deutsche mit Migrationsgeschichte von der Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust ausgeschlossen sind, geht schon auf die Zeit bald nach der Wiedervereinigung zurück, als Thesen wie die populär waren, dass man »in ein Land einwandern« könne, »aber nicht in seine Vergangenheit« (1995). Schon damals war diese Behauptung des Schriftstellers und Journalisten Zafer Şenocak fragwürdig, sie wird jedoch bis heute von Özyürek und ihren »multidirektionalen« Mitstreitern zustimmend zitiert.
Dabei war es schon damals längst Zeit für andere Fragen, angefangen mit der, warum sich die Vorstellung so hartnäckig hält, dass Menschen mit Migrationsgeschichte aufgrund ihrer Herkunft keinen Bezug zum Holocaust und zur deutschen Geschichte haben. Als hätten sie nur ihre Nationalgeschichten und eigenen Erfahrungen und Erinnerungen im Gepäck mitgebracht – und nicht auch transnationale Verflechtungen und komplexe Täter- und Opfergenealogien, die aus geostrategischen Allianzen der Herkunftsländer mit Deutschland erwuchsen.
Michael Rothberg verbreitet seit 15 Jahren seine Theorie vom »German paradox« und »migrant double bind«, die sich wie ein roter Faden auch durch Özyüreks Studie zieht – Ersteres soll heißen, dass die Erinnerung an die NS-Verbrechen an eine ethnisch homogene Vorstellung von deutscher Identität gebunden sei, und das Zweite, dass Migranten aus ebendiesem Grund von der Mehrheitsgesellschaft gleichzeitig ausgeschlossen und wegen ihrer Gleichgültigkeit gegenüber dem Holocaust kritisiert werden. Diese Idee wird in Özyüreks Studie von merkwürdigen Konstrukten begleitet wie »öffentlich akzeptierte Gefühlsformel für ethnische Deutsche«.
Auch Migranten haben bereits einen Bezug zur deutschen Geschichte.
Denn in größtmöglicher Entfernung von den tatsächlichen historischen Ereignissen will diese Studie die vermeintlich ganz unterschiedlichen Emotionen von Deutschen mit und ohne Migrationshintergrund als Maßstab für die Erinnerung an den Holocaust etablieren. Dabei dürfte sich längst herumgesprochen haben, dass die deutschen erinnerungskulturellen Herausforderungen größer sind als dieser vermeintliche Gegensatz von ethnischen und nicht-ethnischen Deutschen. So wird etwa wegen des größer gewordenen zeitlichen Abstands der Begriff »Schuld« zunehmend durch den der »Verantwortung« ersetzt. Özyürek läuft also in mancherlei Hinsicht vor allem den wissenschaftlichen, zum Teil jedoch auch politischen und medialen Diskussionen der vergangenen Jahre hinterher.
Grundsätzlich als rassistisch konstruierte Mehrheitsgesellschaft
Nach der Jahrtausendwende sind unzählige Studien entstanden, die den Blick konsequent und ausschließlich auf eine grundsätzlich als rassistisch konstruierte Mehrheitsgesellschaft richteten. In dieser Sicht war die Vorstellung einer muslimischen Minderheit in Deutschland überhaupt erst durch Umbenennung und Neudefinition von Einwanderern und ihren Nachkommen durch die Mehrheitsgesellschaft entstanden. Muslime wurden angeblich nur deshalb zu Muslimen, weil die Mehrheit es so sehen wollte – und nicht, weil diese sich weltweit selbst stärker als solche zu identifizieren begannen und damit auch stärker als solche wahrgenommen wurden.
Wie in den 90er-Jahren läuft die zentrale Argumentation sowohl bei Özyürek als auch im »multidirektionalen« Lager auf die Behauptung hinaus, dass die deutsche Erinnerungskultur und besonders das Holocaust-Gedenken aus rassistischen Motiven instrumentalisiert wird und der Ausgrenzung von Menschen mit Migrationsgeschichte dient.
Die Studie Stellvertreter der Schuld fügt diesem Denkmuster einen Aspekt hinzu, nämlich Thesen über (so der Titel des dritten Kapitels) »Falsche Emotionen/Falsche Empathie für den Holocaust«. Doch Özyürek will »die Deutschen aus der muslimischen Minderheit« gerade nicht »für ihre emotionalen Reaktionen« kritisieren, weder fragwürdige Identifikationen mit Holocaust-Opfern noch Ressentiments gegenüber Juden will sie als »falsche Emotionen« gelten lassen. Falsche Emotionen, so ist implizit deutlich mitzulesen, haben immer nur die anderen – die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, denen es bei der Aneignung der Erfahrung von Holocaust-Opfern durch muslimische Minderheiten und bei ihrem »Neid auf den jüdischen Opferstatus« unbehaglich ist.
Hang zur Selbstviktimisierung
Ein großer Teil, wenn nicht alle Projekte zur Antisemitismus-Prävention für muslimische Jugendliche, die Özyürek bei der Arbeit an der Studie begleitet hat, scheinen zum Ziel zu haben, dem Hang der Jugendlichen zur Selbstviktimisierung und den damit verbundenen negativen Emotionen wie Neid und Ressentiment entgegenzuarbeiten. Mit ihrem Verständnis für deren Opferrolle und für ihr »Gefühl der Ungerechtigkeit« als »Reaktion auf das Holocaust-Gedenken« verfolgt die Studie Stellvertreter der Schuld das gegenteilige Ziel, nämlich die Legitimität der Opferrolle nicht nur zu behaupten, sondern auch noch zu bestärken.
In diesem Kontext wird immer wieder ein Argumentationsmuster herangezogen, auf das auch Jan Gerber schon hingewiesen hat, nämlich »die Dimensionen des Holocaust kleinzureden«. Aleida Assmann etwa zeigt das gleiche Verständnis wie Özyürek für die »Opferperspektive«, die »Jugendliche mit muslimischem Hintergrund möglicherweise für sich beanspruchen«: »Die jungen Menschen aus Einwandererfamilien«, so Assmann, »haben oft genug selbst alltägliche Erfahrungen mit Rassismus, Zurücksetzung und Diskriminierung gemacht, was ihnen eine Identifikation mit den jüdischen Opfern ermöglicht.«
Diese jüdischen Opfer können jedoch nicht mehr dagegen Einspruch erheben – wie Thomas Schmid es in einem Artikel in der »Welt« im Juni 2020 getan hat – und darauf bestehen, dass sie »eine unendlich schlimmere Erfahrung gemacht (haben) als die von Rassismus, Zurücksetzung und Diskriminierung«.
Wenn neue Erinnerungspolitiker von Assmann über Özyürek bis zu den anderen Akteuren im »multidirektionalen« Lager mit ihren Ansätzen den Anspruch verbinden, »solidarische Allianzen« zu erzeugen, dann basieren diese im Falle der Holocaust-Vergleiche auf einer problematischen Aneignung der Erfahrung von Ermordeten.
Die Annahmen basieren auf der Aneignung der Erfahrung von Ermordeten.
Auch die Studie Stellvertreter der Schuld formuliert die aus dem »multidirektionalen« Lager bekannte Zielsetzung, die von der Notwendigkeit einer postkolonialen Erweiterung der deutschen Erinnerungskultur angesichts der multiethnischen Gegenwartsgesellschaft ausgeht.
Bei Özyürek liest sich das so: »Da die emotionalen Verbindungen, die die muslimische Minderheit in Deutschland zu den jüdischen Holocaust-Opfern entwickelt, sich zwangsläufig von denen ethnischer Deutsche unterscheiden« – also etwa in dem Bedürfnis »mit Juden um ihre Opferrolle (zu) konkurrieren« –, »muss die öffentliche Erinnerungskultur so erweitert werden, dass den vielen unterschiedlichen Identifizierungen seiner Bürger:innen Raum gegeben wird.« Und auch Özyürek beklagt, dass die »öffentliche Legitimität, die dem durch den Holocaust verursachten Trauma verliehen wird«, »derart unantastbar« sei, »dass andere Traumata damit kaum je Schritt halten können«.
Funktionalisierung von Nationalsozialismus und Schoa
Die Empfehlung an Menschen mit Migrationsgeschichte, sie sollten über eine Identifikation mit jüdischen Opfern ihren eigenen Weg zum Umgang mit dem Holocaust-Gedenken finden, erinnert auf irritierende Weise an jene Funktionalisierung von Nationalsozialismus und Schoa, die sich besonders in den 70er- und 80er-Jahren in Slogans wie »Türken sind die Juden von heute« ausdrückte. In dieser Zeit wurde diese gängige Metapher allerdings regelmäßig kritisiert und zurückgewiesen.
Denn dass Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit nicht dasselbe sind und das Leben der damals sogenannten Gastarbeiter nicht mit dem der jüdischen Bevölkerung in der NS-Zeit, geschweige denn mit deren Vernichtung im Holocaust, vergleichbar ist, schien für die meisten Menschen unmittelbar einsichtig.
Heute soll diese politische Metapher in pseudo-progressivem Gewand als »gelebte Multidirektionalität« wissenschafts- und gesellschaftsfähig gemacht werden. Dabei verbirgt sich hinter der vermeintlich emanzipatorischen Idee »multidirektionaler Erinnerung« realiter ein »vor-, wenn nicht antimodernes Konzept des Umgangs mit Vergangenheit«, insofern Erinnerung »als Identität und Gemeinschaft stiftendes Erzählen von Vergangenheit« verstanden wird (Volkhard Knigge). Tritt man noch einen Schritt zurück, dann stellt sich die Frage, warum eine Re-Ethnisierung von Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte überhaupt mit so großem Aufwand betrieben wird.
Warum sollen Errungenschaften der letzten Jahre rückgängig gemacht werden, Errungenschaften, die sich beispielsweise in den wiederholten Statements von Cem Özdemir widerspiegeln, dass »wir Deutschen gelernt haben, Verantwortung für den Holocaust zu übernehmen«?
Denn damit bringt er nicht zuletzt auch zum Ausdruck, dass viele Menschen mit Migrationshintergrund längst mehr verstanden haben als viele von denen, die sich auf der progressiven und emanzipatorischen Seite erinnerungstheoretischer Diskurse verorten und paternalistisch die Emotionen ihrer »edlen Wilden« beschützen.
Esra Özyürek: »Stellvertreter der Schuld. Erinnerungskultur und muslimische Zugehörigkeit in Deutschland«. Mit einem Vorwort von Eva Menasse. Aus dem Englischen von Elsbeth Ranke. Klett-Cotta, Stuttgart 2025, 320 S., 26 €