Lesen!

Ritualmord in Sandomierz?

Die über 500 Seiten lange Geschichte bleibt bis zum Schluss hochspannend. Foto: Berlin Verlag

Lesen!

Ritualmord in Sandomierz?

Der neue Krimi des polnischen Schriftstellers Zygmunt Miloszewski ist ebenso intelligent wie ausgeklügelt konstruiert

von Nils Kottmann  28.02.2017 17:24 Uhr

Sandomierz ist ein pittoreskes Städtchen im Südosten Polens, in dem es außer gelegentlichen Handydiebstählen in der Schule keine nennenswerten Verbrechen gibt. Ausgerechnet in diese Kleinstadtidylle hat der polnische Schriftsteller Zygmunt Miloszewski nun die Handlung seines neuen Krimis Ein Körnchen Wahrheit verlegt.

Genau dort wird Staatsanwalt Teodor Szacki – Maßanzug, eisgraue Augen, frisch geschieden – mit einem brutalen Mord an einer Frau konfrontiert. Dieser wurde mit dem Messer eines koscheren Schlachters die Kehle aufgeschlitzt. Die Bürger von Sandomierz sind überzeugt: Es muss ein »jüdischer Ritualmord« gewesen sein. Besonders in Sandomierz scheint dieses Motiv sehr glaubhaft, schließlich ist die Stadt in ganz Polen bekannt für ihre antisemitischen Pogrome – und in jeder Legende steckt doch auch ein Körnchen Wahrheit, oder?

vorurteile In seinen Ermittlungen muss sich Szacki jedoch nicht nur mit antijüdischen Vorurteilen und einer sensationsgierigen Presse herumschlagen, sondern auch mit den ganz gewöhnlichen Affären und Verstrickungen, die das Leben in einer Provinzstadt mit sich bringt. In Sandomierz kennt jeder jeden, und Feindschaften dauern oft über Generationen an. Ein fruchtbarer Boden also für ein breit angelegtes Verwirrspiel, bei dem der Serienmörder geschickt mit den Vorurteilen und uralten Fehden der Sandomierzer spielt und Sein und Schein, Fiktion und Wirklichkeit changieren.

Mit Teodor Szacki hat Zygmunt Miloszewski dabei einen ganz eigenen Typus Ermittler geschaffen, der relativ wenig mit seinen schwedischen Vorbildern wie Kurt Wallander zu tun hat. Szacki ist kein depressiver Ermittler, dem das Leben nach und nach aus den Händen gleitet, sondern ein gut aussehender Mann, der bei den Frauen erfolgreich ist und den abgebrühten Ermittler nicht nur spielen muss.

Trotz seines guten Instinkts fällt es aber auch ihm schwer, herauszufinden, wer in Sandomierz die Wahrheit sagt und wer lieber seine Geheimnisse unter den Teppich kehren möchte. Zur Freude der Leser möchte man sagen: Die immerhin über 500 Seiten lange Geschichte bleibt bis zum Schluss hochspannend und ist zudem auch noch – keine Selbstverständlichkeit in dem Genre – ebenso intelligent wie ausgeklügelt konstruiert.

Zygmunt Miloszewski: »Ein Körnchen Wahrheit«. Berlin Verlag, Berlin 2016, 512 S., 10 €

Glosse

Der Rest der Welt

Friede, Freude, Eierkuchen oder Challot, koschere Croissants und Rugelach

von Margalit Edelstein  09.11.2025

Geschichte

Seismograf jüdischer Lebenswelten

Das Simon-Dubnow-Institut in Leipzig feiert den 30. Jahrestag seiner Gründung

von Ralf Balke  09.11.2025

Erinnerung

Den alten und den neuen Nazis ein Schnippchen schlagen: Virtuelle Rundgänge durch Synagogen

Von den Nazis zerstörte Synagogen virtuell zum Leben erwecken, das ist ein Ziel von Marc Grellert. Eine Internetseite zeigt zum 9. November mehr als 40 zerstörte jüdische Gotteshäuser in alter Schönheit

von Christoph Arens  09.11.2025

Theater

Metaebene in Feldafing

Ein Stück von Lena Gorelik eröffnet das Programm »Wohin jetzt? – Jüdisches (Über)leben nach 1945« in den Münchner Kammerspielen

von Katrin Diehl  09.11.2025

Aufgegabelt

Mhalabi-Schnitzel

Rezepte und Leckeres

 09.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  09.11.2025

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  08.11.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  08.11.2025

Erinnerungskultur

»Algorithmus als Chance«

Susanne Siegert über ihren TikTok-Kanal zur Schoa und den Versuch, Gedenken neu zu denken

von Therese Klein  07.11.2025