Berlin

Rituale gegen das Vergessen

Unter dem Titel »Alles hat seine Zeit – Rituale gegen das Vergessen« lädt das Jüdische Museum Berlin von Freitag an zu seiner ersten großen Judaica-Ausstellung ein. Sie widmet sich in 16 Kapiteln dem Thema der »rites des passages«, dem Übergangsritus zwischen zwei Lebensstadien. Es wird der Frage nachgegangen, wie solche existenzielle Einschnitte im Leben wie Geburt, Mündigkeit, Eheschließung oder Tod mit religiöser Tradition verbunden werden. Darüber hinaus wird die kollektive Dimension des Gedenkens am Jahreszyklus jüdischer Feiertage dargestellt.

»Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit:/Eine Zeit zum Gebären/und eine Zeit zum Sterben,/eine Zeit zum Pflanzen/und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen,/eine Zeit zum Töten/und eine Zeit zum Heilen«, heißt es im Buch Kohelet. Auf solche Erinnerungsanker, Zäsuren im Jahreskreis wie im Lebenszyklus, bezieht sich die Schau.

wechselverhältnis Zu sehen sind mehr als 60 ausgesuchte Objekte aus öffentlichen und privaten Sammlungen. Sie zeigen, was sich hinter dem religiösen und säkularen Gedanken verbirgt. »Das Besondere an der Ausstellung ist das Wechselverhältnis zwischen der sakralen und der profanen Zeit«, betont auch die Programmdirektorin des Jüdischen Museums, Cilly Kugelmann. Jeder Mensch brauche Rituale gegen das Vergessen, um sich seiner Kultur, Religion, Geschichte und Identität zu vergewissern.

Auf die besondere Bedeutung dieser Rituale für das Judentum wies die Kuratorin der Ausstellung, Felicitas Heimann-Jelinek, noch einmal gesondert hin: »Die Rituale, die sich im Judentum zyklisch wiederholen, sind deshalb so wichtig, weil die Ereignisse, an die sie erinnern, konstitutiv für religiöse und kulturelle jüdische Identitäten sind.« Ohne das ritualisierte Erinnern könnten sich die Inhalte des Judentums auflösen.

erinnerungsstrategien Die Ausstellung widmet sich ausgewählten Zeitabschnitten, die Gegenstand jüdischer Erinnerung und den damit verbundenen Riten sind. Zur Veranschaulichung werden individuelle Erinnerungsstrategien ebenso aufgegriffen wie solche, die wichtig für die Gemeinschaft sind. Unter den Ausstellungsobjekten befinden sich eine Tora-Krone aus dem Elsass oder drei Tontafeln, die das jüdische Leben im mittelalterlichen Köln bezeugen, ebenso wie eine mobile, seriell gefertigte Laubhütte aus dem baden-württembergischen Baisingen, die noch bis zum Jahr 2000 als Geflügelstall verwendet wurde.

Den traditionellen jüdischen Zeremonialobjekten steht eine Auswahl großformatiger Fotoarbeiten der New Yorker Multimediakünstlerin Quintan Ana Wikswo gegenüber. Wikswo widmet sich in ihren Arbeiten den sexuell ausgebeuteten Frauen, die in Konzentrationslager-Bordellen arbeiten mussten – einer Opfergruppe also, die von den Erinnerungsritualen der Gedenkpolitik bisher ausgeblendet wurde. Dazu bearbeitete sie Aufnahmen der heute spurlos verschwundenen Bordellbaracke auf dem einstigen Gelände des KZ Dachau und zeigt somit Erinnerungen völlig konträrer Natur. Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Begleitkatalog erschienen. ja

»Alles hat seine Zeit. Rituale gegen das Vergessen«. Jüdisches Museum Berlin, bis 9. Februar 2014. Der gleichnamige Katalog ist im Kehrer-Verlag erschienen.
www.jmberlin.de

Literatur

John Irvings »Königin Esther«: Mythos oder Mensch?

Eigentlich wollte er keine langen Romane mehr schreiben. Jetzt kehrt er zurück mit einem Werk über jüdische Identität und Antisemitismus

von Taylan Gökalp  18.11.2025

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  17.11.2025

TV-Tipp

»Unser jüdischer James Bond«

Die Arte-Doku »Der Jahrhundert-Spion« erzählt die schillernde Lebensgeschichte des Ex-CIA-Agenten Peter Sichel, der seinerzeit den Ausbruch des Kalten Kriegs beschleunigte

von Manfred Riepe  17.11.2025

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  17.11.2025

Miss-Universe-Show

Miss Israel erhält Todesdrohungen nach angeblichem Seitenblick

Auch prominente Israelis sind immer öfter mit Judenhass konfrontiert. Diesmal trifft es Melanie Shiraz in Thailand

 17.11.2025

TV-Tipp

Ein Skandal ist ein Skandal

Arte widmet den 56 Jahre alten Schock-Roman von Philip Roth eine neue Doku

von Friederike Ostermeyer  17.11.2025

Jubiläum

Weltliteratur aus dem Exil: Vor 125 Jahren wurde Anna Seghers geboren

Ihre Romane über den Nationalsozialismus machten Anna Seghers weltberühmt. In ihrer westdeutschen Heimat galt die Schriftstellerin aus Mainz jedoch lange Zeit fast als Unperson, denn nach 1945 hatte sie sich bewusst für den Osten entschieden

von Karsten Packeiser  17.11.2025

Aufgegabelt

Noahs Eintopf

Rezepte und Leckeres

 16.11.2025

Kunst

Illustrationen und Israel-Hass

Wie sich Rama Duwaji, die zukünftige »First Lady von New York«, auf Social Media positioniert

von Jana Talke  13.11.2025