Felicia Berliner

Raizl und die Porno-Sucht

Jede Nacht versinkt Raizl mit ihrem Computer in verbotene Welten. Foto: Getty Images

Felicia Berliner

Raizl und die Porno-Sucht

»Shmutz« erzählt die ungewöhnliche Geschichte einer Chassidin

von Ayala Goldmann  19.10.2023 10:00 Uhr

Raizl ist 19, Chassidin und hat ein Problem: Sie kann nicht heiraten. Denn wie sie in einer Arztpraxis gesteht, schaut sie sich »zu viel an«. Ob das die Behandlerin schockiert?

»Laut Mami gehört die Ärztin zwar nicht zur Gemeinschaft, hat aber bereits mit anderen chassidischen Familien zusammengearbeitet«, versucht sich Raizl zu beruhigen, als sie der Therapeutin ihr Laster beichtet: »Vermutlich hat sie schon alle Leiden und zoreß, von denen man so munkelt, in ihrer Praxis gehabt: die am Schnaps hängende Mutter, den mit Tellern um sich werfenden Vater, den bettnässenden Bar-Mizwa-Jungen. Hier und da eine Braut, die in ihrer Hochzeitsnacht nicht blutet und noch nie in der Nähe eines Pferdes gewesen ist. Jetzt also Raizl, Tochter Israels, pornosüchtig.«

Damit sind wir mittendrin in der Geschichte einer jungen Frau, die für die chassidische Gemeinschaft ungewöhnliche Freiheiten genießt: Sie besucht ein College, und sie besitzt einen Computer, um Buchhaltung zu lernen. Doch als Raizl entdeckt, was es im Internet alles an »shmutz« zu sehen gibt, kann sie damit nicht mehr aufhören.

Sollte sie das Abendgebet lieber vor den Videos sprechen als danach?

Jede Nacht – außer am Schabbat – verkriecht sie sich mit dem Computer unter der Bettdecke, um in verbotene Welten zu versinken. Was neue Probleme erzeugt, denn eines Abends vergisst Raizl, das Schma-Israel-Gebet zu sprechen, weil sie nach den Videos eingeschlafen ist. Sie fragt sich: »Sollte sie das Schma vielleicht lieber vor den Pornos beten als danach? Ein wahres Dilemma. (…) Aber was ist, wenn ihr Pornokonsum das Schma ungültig werden lässt?«

Anders als »Unorthodox« von Deborah Feldman

Anders als Unorthodox von Deborah Feldman ist Shmutz keine tragische Lebensbeichte, sondern ein unterhaltsamer, wenn auch nicht in jeder Hinsicht überzeugender Roman. Und die Autorin heißt nicht wirklich Felicia Berliner. Die »Times of Israel« schreibt, dass die Verfasserin von Shmutz »nach eigenen Angaben« in Los Angeles in einer orthodoxen Familie aufwuchs und ihren ebenfalls orthodoxen Großeltern sehr nahestand. Wie vertraut sie selbst als Kind mit der charedischen Welt war, bleibt unklar.

»Meine Großmutter und mein Vater sprachen Jiddisch, wenn sie nicht wollten, dass ich sie verstehe. Als ich dieses Buch schrieb, habe ich viel neues Jiddisch gelernt, und ich bin glücklich, dass ›Shmutz‹ den Lesern jiddisches Vokabular nahebringt«, schreibt die Autorin in einem per E-Mail geführten Interview mit der Jüdischen Allgemeinen.

Und über sich selbst und ihr erstes Buch teilt sie mit: »Indem ich unter Pseudonym veröffentlichte, folge ich einer langen literarischen Tradition. ›Shmutz‹ feiert die sexuelle Neugier einer jungen Frau und ihr Vergnügen. Die meisten Leser werden verstehen, dass viele Frauen, die über Sexualität schreiben, belästigt werden.« Zum Grad ihrer Religiosität lässt die Romanautorin wissen: »Ich passe nicht wirklich in irgendeine der traditionellen Schubladen oder Kategorien. Sie können mich eine ekstatische Ritualistin nennen, die nach egalitärer Praxis sucht.«

Auch Raizl versucht, ein Bedürfnis nach Ekstase mit Religionsausübung zu vereinbaren. Sie zitiert den Segensspruch, den orthodoxe Männer jeden Tag sagen: »Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der mich nicht als Frau erschaffen.«

Doch Raizl will kein Mann sein, der eine Gruppe von zehn Männern braucht, um beten zu können – sie schätzt »die Möglichkeit eines Einzelgesprächs mit Haschem«. Sie fragt sich, warum sie als Pornosüchtige erschaffen wurde, und sie will wissen: »›Bitte, Haschem, sag mir, wie ich sein soll.‹ Und die Antwort, von Haschem oder von ihr, der Segen der Männer, für sie zurechtgeschnitten, indem das ›nicht‹ entfernt wurde: ›Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der mich als Frau erschaffen hat.‹«

Allerdings ist Shmutz kein Werk mit einer platten Agenda. Es macht Spaß, Raizl dabei zu beobachten, wie sie sich im Lauf der Therapie bei Dr. Podhoretz weiterentwickelt und widerwillig einer »Beschau« nach der anderen zustimmt, um ihren potenziellen Ehepartner kennenzulernen. Wobei einige dieser Treffen nicht wesentlich absurder verlaufen als säkulares Online-Dating – und die körperlichen Begierden der beiden jungen Menschen, die sich unter Aufsicht begegnen, bei der Lektüre fühlbar werden.

Die chassidische Welt ist im Buch eine warmherzige und menschliche

Nichts wirkt angelesen oder angeeignet. Die chassidische Welt ist in diesem Buch keine fremde, obskure Kultur, sondern eine warmherzige und menschliche. Raizls Brüder sind Egoisten – trotzdem lieben sie ihre Schwester. Und Raizls Mutter will ihre Tochter keineswegs nur deshalb unter die Haube bringen, um Konventionen zu genügen. Sie sieht Raizl nicht als potenzielle »Gebärmaschine«, sondern will, dass sie nicht einsam ist – und hofft, dass eine junge Mutter weniger Gefahr läuft, Fehlgeburten zu erleiden. (Raizls Mutter, wie sich herausstellt, hatte gleich mehrere. Und eine Abtreibung.)

»Shmutz« ist keine tragische Lebensbeichte.

Shmutz hat seine Schwächen, auch was die Konstruktion der Charaktere angeht. Der immer wieder beschworene Großvater Zeidy, der Träume deuten kann, stirbt, ohne Einfluss auf die Handlung nehmen zu können.

Dass Vagina auf Jiddisch »Schmundie« heißt, müsste nicht x-mal wiederholt werden. Und wer in den Pornovideos wen wie »stupt«, von vorne, von hinten oder gefesselt, gehört nicht zu den lesenswertesten Stellen des Buches, weil es irgendwann langweilig wird.

Doch alles in allem ist dieser Roman ein lockeres Vergnügen. Und das Ende, ohne allzu viel zu verraten, könnte für »moderne« Leserinnen eine Überraschung sein. Oder wie es die »New York Times« nannte: »Ein dreckiges Buch mit einem reinen Herzen.«

Felicia Berliner: »Shmutz«. Übersetzt von Hanna Hesse. Atlantik, Hamburg 2023, 368 S., 24 €

Sehen!

»Der Meister und Margarita«

In Russland war sie ein großer Erfolg – jetzt läuft Michael Lockshins Literaturverfllmung auch in Deutschland an

von Barbara Schweizerhof  30.04.2025

Fernsehen

»Mord auf dem Inka-Pfad«: War der israelische Ehemann der Täter?

Es ist einer der ungewöhnlichsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte. Die ARD packt das Geschehen nun in einen sehenswerten True-Crime-Vierteiler

von Ute Wessels  30.04.2025

20 Jahre Holocaust-Mahnmal

Tausende Stelen zur Erinnerung - mitten in Berlin

Selfies auf Stelen, Toben in den Gängen, Risse im Beton - aber auch andächtige Stille beim Betreten des Denkmals. Regelmäßig sorgt das Holocaust-Mahnmal für Diskussionen. Das war schon so, bevor es überhaupt stand

 30.04.2025

Medien

Leon de Winter wird Kolumnist bei der »Welt«

Bekannt wurde er vor mehr als 30 Jahren mit Romanen wie »Hoffmanns Hunger«. Jetzt will der niederländische Autor Leon de Winter in Deutschland vermehrt als Kolumnist von sich hören lassen

von Christoph Driessen  29.04.2025

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  29.04.2025

Berlin

Antisemitismusbeauftragter für alle Hochschulen soll kommen

Details würden derzeit noch im Senat besprochen, sagte Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra

 29.04.2025

Jerusalem

Seltenes antikes Steinkapitell wird in Israel ausgestellt

Ein Fund aus dem Jahr 2020 gibt israelischen Archäologen Rätsel auf. Die Besonderheit des Steinkapitells aus römischer Zeit: Es ist mit einem mehrarmigen Leuchter - im Judentum Menorah genannt - verziert

 29.04.2025

Berlin

Jüdisches Museum erforscht Audio-Archiv von »Shoah«-Regisseur

Claude Lanzmann hat mit seiner epochalen Dokumentation »Shoah« Geschichte geschrieben. Das Jüdische Museum Berlin nimmt ein Doppeljubiläum zum Anlass, um das umfangreiche Recherchematerial des Regisseurs zu erschließen

von Alexander Riedel  29.04.2025

Köln

»Charlie Hebdo«-Überlebender stellt Comic zu NS-Raubkunst vor

»Zwei Halbakte« heißt ein 1919 entstandenes Gemälde von Otto Mueller. Die Geschichte des Kunstwerks hat der französische Zeichner Luz als Graphic Novel aufgearbeitet. Mit teils sehr persönlichen Zugängen

von Joachim Heinz  28.04.2025