Essay

Radikal genozidal

Spuren der Gewalt: Bei dem Attentat auf den »Hyper Cacher«-Supermarkt am 9. Januar 2015 in Paris hatte ein Islamist vier jüdische Kunden erschossen. Foto: REUTERS

Hetze, Mobbing oder gewaltsame Übergriffe – der Judenhass von Muslimen sorgt derzeit nicht nur hierzulande für Schlagzeilen, sondern auch in Frankreich, Großbritannien oder Skandinavien. Zwischen Marokko und Indonesien dagegen gehört der muslimische Judenhass schon seit langer Zeit, wie Yehuda Bauer in seiner konzisen Studie über das Phänomen des islamischen Antisemitismus schreibt, zum Alltag.

»Die Juden sind die Urfeinde, und der Kampf gegen sie basiert auf der realen Geschichte des Sieges des Propheten in den bitteren Kämpfen des 7. Jahrhunderts und dem daraus entstandenen radikalen Selbstverständnis«, schreibt der 1926 in Prag geborene Historiker und langjährige Leiter des International Centre for Holocaust Studies in Yad Vashem.

Die vielen ambivalenten Aussagen im Koran sind für Bauer ein großes Problem.

Zugleich richtet er sich mit seinem Buch auch gegen die gängige Behauptung, dass allein der Nahostkonflikt Ursache der unter Muslimen zu beobachtenden Judenfeindschaft sei. »Der israelisch-palästinen-
sische Konflikt ist durchaus real und wichtig, aber das Ziel ist nicht nur, Israel zu vernichten, also eine genozidale Einstellung, sondern alle Juden der Welt zu eliminieren.« Die Gründe dafür sind vielfältig und reichen weit in die Geschichte zurück.

Dschihad Doch Bauer betont mit Nachdruck, dass dabei zwischen Anhängern einer extremistisch sowie fundamentalistisch ausgerichteten Religionspraxis und der Mehrheit der Gläubigen, die eben nicht so denken, differenziert werden sollte. »Wer vom muslimischen Antisemitismus spricht, muss vom radikalen dschihadistischen Islam sprechen. Dieser ist, und das ist die zentrale These, nicht gleichzusetzen mit dem Islam.« Sehr wohl aber speist sich der spezifisch muslimische Judenhass aus den heiligen Schriften, auf die sich alle Muslime beziehen. Der Historiker verweist dabei unter anderem auf Stellen im Koran sowie in zahlreichen Hadithen, in denen davon die Rede ist, dass Juden in Affen und Schweine verwandelt wurden, weil sie Religionsvorschriften nicht eingehalten hätten.

Auch die vielen ambivalenten Aussagen im Koran sind für Bauer ein großes Problem. Einerseits lassen sich nicht wenige Passagen finden, die Juden in einem durchaus positiven Licht erscheinen lassen. Dann aber, und das erscheint deutlich wirkungsmächtiger, sind da die Schilderungen vom Kampf des Propheten Mohammed gegen die jüdischen Stämme in Medina, in denen es reichlich Mord und Totschlag gibt. »Im modernen Islam wird ständig darauf Bezug genommen«, so Bauer.

In zahlreichen Hadithen werden Juden in Affen und Schweine verwandelt.

Damit verweist er zugleich auf den eigentlichen Kern des Antisemitismus in seiner islamischen Spielart: »Das 21. Jahrhundert wird als direkte Fortsetzung des siebten angesehen; anders gesagt, das siebte ist im 21. gegenwärtig.« Auf diese Weise erfahren die gegen Juden gerichteten Handlungen in der Gegenwart eine zutiefst religiöse Aufladung, schließlich handelt ein Dschihadist in seiner Selbstwahrnehmung genauso wie der Prophet Mohammed vor knapp 1400 Jahren.Und wer am Koran geschult ist, der liest die Selbstmordattentate in Tel Aviv oder Anschläge wie den auf das Jüdische Museum in Brüssel dann auch als quasi heilige Akte. Das gilt für Anhänger aus dem Umfeld der Hamas oder Hisbollah gleichermaßen wie für die des IS oder von al-Qaida.

Komplott Die ständige Bezugnahme auf tatsächliche oder imaginierte historische Ereignisse ist also für den islamischen Antisemitismus wesensbestimmend. Vor diesem Hintergrund relativiert sich dann auch die oftmals in apologetischer Absicht formulierte Aussage, dass der Judenhass unter Muslimen nur ein ideologischer Import aus Europa sei. Zweifellos hat die Adap-
tion christlicher Ritualmordlegenden oder die weite Verbreitung von Schriften wie Mein Kampf oder Die Protokolle der Weisen von Zion erheblichen Anteil am Zustandekommen des modernen Antisemitismus unter Muslimen. Doch ohne den religiösen Resonanzboden hätten alle diese Ideologeme keinesfalls eine derart breite Rezeption erfahren.

»Ein weiteres Element im islamischen Antisemitismus ist die Neigung, Zionismus und Nazismus zu vergleichen«, schreibt Bauer. Wahlweise wird in diesem Kontext die Schoa entweder geleugnet, oder man sieht sich selbst in der Rolle des Opfers eines jüdischen Komplotts, das auf nichts Geringeres als einen Völkermord an den Palästinensern oder die Versklavung aller Muslime hinauslaufe. Ebenfalls werden vermeintliche und reale Feinde eines konservativen oder radikalen Islam zu Juden halluziniert – Beispiele dafür sind Mustafa Kemal Atatürk, weil er als Begründer der modernen Türkei das Kalifat abgeschafft hatte, oder ganz aktuell das saudische Königshaus, das sicherheitspolitisch neuerdings viel mit Israel kooperiert.

Doch eine große Klammer gibt es zwischen dem islamischen Antisemitismus und dem nichtislamischer Prägung: Juden gelten als Träger der Moderne, die darüber hinaus die Medien, die Wirtschaft und die Regierungen kontrollieren. »Die Feindschaft gegen die Juden ist also zentraler Bestandteil der antiwestlichen Haltung«, lautet Bauers Fazit. Sein Lösungsansatz, um das Phänomen in den Griff zu bekommen: »Nur eine Allianz zwischen muslimischen und nicht-muslimischen Demokraten könnte dieses Ziel erreichen.«

Yehuda Bauer: »Der islamische Antisemitismus – Eine aktuelle Bedrohung«. LIT, Berlin 2019, 96 S., 16,80 €

Brüssel

»Gegen EU-Grundwerte«: Kommission verurteilt Festival

Eine Sprecherin der Europäischen Kommission hat den Boykott der Münchner Philharmoniker und ihres Dirigenten Lahav Shani in die Nähe von Antisemitismus gerückt und scharf verurteilt

von Michael Thaidigsmann  12.09.2025

Sachbuch

Aus dem Leben einer Rebellin

Gerhard J. Rekel hat der jüdischen Sozialaktivistin Lina Morgenstern eine lesenswerte Biografie gewidmet

von Gerhard Haase-Hindenberg  12.09.2025

TV

Auch Niederlande drohen mit ESC-Boykott, wenn Israel teilnimmt

Gastgeber Österreich hat sich bereits eindeutig für eine Teilnahme Israels ausgesprochen

 12.09.2025

Belgien

»Ruf unseres Landes beschmutzt«: Premier rügt Gent-Festival

Premier Bart de Wever kritisiert die Leiter eines belgischen Festivals dafür, die Münchner Philharmoniker und ihren Dirigent Lahav Shani ausgeladen zu haben

 12.09.2025

Nach Canceln in Gent

Solidarität in Berlin: Konzert mit Lahav Shani

Der israelische Dirigent und die Münchner Philharmoniker treten am Montag beim Musikfest Berlin auf

 12.09.2025

Belgien

Prosor: Ausladung von Shani »purer Antisemitismus«

Der israelische Dirigent Lahav Shani darf nicht auf dem Flanders Festival Ghent auftreten, weil er sich nicht genug vom Vorgehen Israels in Gaza distanziert habe. Das sorgt international für Kritik

 12.09.2025

Streaming

»Verstehen statt behaupten«

Ein Gespräch mit Dan Shaked über seine Abneigung gegen Petitionen, das Spionagedrama »The German« und den Dreh mit Schauspielkollege Oliver Masucci

von Katrin Richter  12.09.2025

Sehen!

»Humans 2.0«

Die Suche nach dem Moment des perfekten Gleichgewichts – das australische Ensemble »Circa« gastiert in Berlin

von Bettina Piper  12.09.2025

Kino

Für Hermann Göring lernte Russell Crowe Deutsch

Crowe spielt den Nazi-Verbrecher in »Nuremberg«, einem packenden Thriller über die Nürnberger Prozesse

von Manuela Imre  12.09.2025