Projektion

Rachsüchtig?

»Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen?« Ulrich Matthes als Shylock in »Der Kaufmann von Venedig« (Deutsches Theater Berlin) Foto: picture alliance / Sammlung Richter

Purim 2022: Im Jüdischen Museum in Frankfurt eröffnet eine Ausstellung mit dem Titel Rache: Geschichte und Fantasie und begeistert Publikum wie Feuilleton gleichermaßen. Kaum vier Jahre später erscheint ein derart offener und kreativer Umgang mit dem Thema »jüdische Rache« nicht mehr denkbar. Wer heute davon spricht, muss sich fragen, ob dies wirklich der geeignete Zeitpunkt ist. Denn der 7. Oktober 2023 mit seinen schrecklichen Folgen hat viele Diskurse verändert. Auch und gerade den über »jüdische Rache«.

Aber so sehr unsere moderne, zivilisierte und aufgeklärte Gesellschaft sich einredet, disruptive Impulse wie Rache überwunden zu haben, sie lieber anderen zuschreibt und sich dennoch an imaginären und medial vermittelten Rache­geschichten ergötzt, so geeignet ist eigentlich jeder Zeitpunkt, um über Rache zu sprechen – auch über jüdische.

Hannah Arendt schrieb: »Wenn man als Jude angegriffen ist, muss man sich als Jude verteidigen.«

Aber zunächst sollten wir die Frage stellen: Was soll das überhaupt sein, »jüdische Rache«? Bei Begriffen wie jüdische Literatur, jüdische Musik, jüdische Kunst, jüdische Architektur und jüdischer Film wird teils seit Jahrhunderten erbittert darüber gestritten, was genau das Jüdische daran sei. Und nun soll ausgerechnet Rache auf irgendeine Weise spezifisch jüdisch sein?

Wunsch nach Vergeltung ist zutiefst menschliche Reaktion auf erlittenes, empfundenes oder beobachtetes Unrecht

Der Wunsch nach Vergeltung ist eine zutiefst menschliche Reaktion auf erlittenes, empfundenes oder beobachtetes Unrecht. Eine Störung des natürlichen Gerechtigkeitsempfindens, das nach Ausgleich verlangt. Dieser universelle Gedanke findet sich unter anderem bei Aristoteles, Adam Smith oder Friedrich Nietzsche. Erst wenn wir die Perspektive ändern und zunächst auf das Unrecht schauen, kommen wir der partikularen Dimension vielleicht ein wenig näher.

Von Hannah Arendt stammt der berühmte Satz »Wenn man als Jude angegriffen ist, muss man sich als Jude verteidigen«. In diesem Sinne ließe sich die Vergeltung eines ausdrücklich antijüdischen Unrechts mit einigem Recht als spezifisch jüdische Rache beschreiben – so weit, so philosophisch.

Aber wie so viele Bereiche des Jüdischseins ist auch der Umgang von Jüdinnen und Juden mit Unrecht Gegenstand zahlreicher Mythen und Projektionen, die sich zu ebenso antisemitischen wie philosemitischen Stereotypen verfestigt haben: Da ist einerseits die über Jahrhunderte tradierte Karikatur vom bösen, rachsüchtigen Juden, derer sich die Nationalsozialisten noch in der Niederlage zu bedienen versuchten, um die deutsche Angst vor jüdischer Rache in eine letzte Kriegsanstrengung zu verwandeln.

Auf der anderen Seite steht das wesentlich jüngere, aber nicht weniger überzeichnete Bild von den guten jüdischen Opfern, deren »ausgestreckte Hand der Versöhnung« bei jeder sich bietenden Gelegenheit feierlich herbeigeredet wird. Dieses zweite Bild sagt mehr über das zugrundeliegende Bedürfnis nach Versöhnung als über die tatsächlichen Gefühle derjenigen, über die so salbungsvoll und nur scheinbar demütig gesprochen wird. Das erste Bild jedoch wurzelt tief in der Religionsgeschichte und in der angeblichen Opposition von einem jüdischen »Gott der Rache« gegenüber einem christlichen »Gott der Gnade«.

In der Tora steht: »Tritt aber ein Unglücksfall ein, so setze: Leben um Leben / Auge um Auge, Zahn um Zahn«

Deshalb lohnt sich ein kurzer Blick in den biblischen Text. Das Gebot ist eindeutig: »Du sollst dich nicht rächen und nichts nachtragen« (3. Buch Mose 19,18); falls Unrecht geschieht, sind die Zuständigkeiten klar: »Mein ist die Rache, die Vergeltung« (5. Buch Mose 32,35). Vergeltung ist also ein göttliches Privileg. Selbst die immer wieder als vermeintlicher Beweis biblisch verbriefter jüdischer Rachsucht angeführten Verse »Tritt aber ein Unglücksfall ein, so setze: Leben um Leben / Auge um Auge, Zahn um Zahn« (2. Buch Mose 21, 23–24) dienten der Schadensregulierung und Wahrung von Verhältnismäßigkeit. Deswegen griffen Buber und Rosenzweig an diesen Stellen in ihrer Übersetzung auch auf die Wörter »Lebensersatz« beziehungsweise »Augersatz« und »Zahnersatz« zurück.

Andererseits mangelt es nicht gerade an Rachegeschichten mit aktiver menschlicher Beteiligung. Mosche nimmt Rache an den Midjanitern und David an den Ama­le­kitern – immerhin auf Befehl von ganz oben. Schimschons Rache an den Philistern ist dagegen persönlich. Das gilt auch für Abschaloms Rache an Amnon. In den Geschichten von Esther und der nicht-kanonischen Judith verschränken sich individuelles und kollektives Rachehandeln.

Noch abenteuerlicher wird es in den nachbiblischen Schriften – eine Menge dazu findet sich in Louis Ginzbergs Werk Die Legenden der Juden: So rächt sich Lilith an Adam und sucht als Dämonin alle Neugeborenen heim, die Sintflut tötet Kain und rächt so den Mord an Abel, Esau schmiedet komplizierte Rachepläne gegen Jakob und verbündet sich dafür mit Ismael. Auch die Tötung eines ägyptischen Aufsehers durch Mosche wird ausführlich als unvermeidlicher Racheakt legitimiert.

Für nichtjüdische Projektionen jüdischer Rache hält die Weltliteratur unzählige Beispiele parat. »And if you wrong us, shall we not revenge?«, heißt es am Ende von Shylocks berühmtem Monolog. Es ist ein Plädoyer für die universelle Einsicht, dass Rache menschlich ist. Interessant sind die deutschen Übersetzungen des Shakespeare-Stücks Der Kaufmann von Venedig. »Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen?«, heißt es in der von August Wilhelm von Schlegel und das klingt anders als bei Erich Fried, der daraus Folgendes machte: »Und wenn ihr uns Unrecht tut, sollen wir es nicht rächen?«

Nathan der Weise als Gegenentwurf zu Shylock

Übersetzungen sind immer auch Interpretationen. Den Gegenentwurf zu Shylock, der von seinem »pound of flesh« nicht lassen will, ist Nathan der Weise. Obwohl seine Familie bei einem Pogrom grausam getötet wurde und er »der Christenheit den unversöhnlichsten Haß zugeschworen« hatte, kommt bei ihm »die Vernunft allmählig wieder«. Er fügt sich in sein Schicksal und wird zum Inbegriff der Versöhnlichkeit. Nicht von ungefähr gehörte Lessings gleichnamiges Drama zu den ersten Stücken, die nach 1945 auf deutschen Bühnen gespielt wurden.

Zuletzt möchte ich behaupten, dass sich auch der Kinderbuchklassiker Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat als unbeabsichtigte Parabel auf das deutsch-jüdische Verhältnis nach der Schoa lesen lässt. Ein kleiner, kurzsichtiger Maulwurf mit großer Nase, Brille und schwarzem Samtkaftan wird eines Tages ohne eigenes Verschulden und nur, weil er den Kopf aus der Erde gesteckt hat, unter einem großen Haufen braunen Kots begraben und beschließt, den Übeltäter zu finden. Alle Tiere, die er befragt, beteuern nur ihre eigene Unschuld.

Als endlich Hans-Heinerich, der Metzgershund, als Übeltäter identifiziert wird, ist die Rache eher symbolisch: ein winziges Würstchen auf dem riesigen Hundekopf. Mehr ist nicht drin, und dennoch verschwindet der kleine Maulwurf »glücklich und zufrieden (…) wieder in der Erde«. Erst in der Fortsetzung Die Rache des Hans-Heinerich erfahren wir, dass dessen Vater ein »alter Metzgershund aus Frankfurt« war, der Gewalt befürwortet und seinem Sohn »Disziplin, Gehorsam und (…) Treue« beigebracht hat sowie ein Überlegenheitsgefühl gegenüber Tieren, die geschlachtet werden. Am Ende gibt es weder erneute Rache noch echte Versöhnung. Stattdessen nutzt der kleine Maulwurf die Arroganz und Dummheit des Hundes und zieht sich mit einer List aus der Affäre.

Literarisches Schreiben ist gleichermaßen ein Akt der Rache und der Selbstermächtigung.

Bleibt die Frage, ob sich jüdische Rache auch als Selbstermächtigung erzählen und lesen lässt. Jacob Levy, der sich im Roman Point of No Return von Martha Gellhorn als amerikanischer Soldat quer durch Europa gekämpft hat, nimmt sein Jüdischsein erst an, nachdem er in Dachau seinen Jeep in eine Gruppe lachender Deutscher gesteuert hat und die Tat als bewusst jüdischen Racheakt verstanden wissen will.

Primo Levi hat nicht nur Lagererinnerungen geschrieben, sondern 1960 auch das Gedicht »Für Adolf Eichmann«, in dem er dem Planer der »Endlösung« nicht den Tod, sondern ein ewiges Leben voller schlafloser Nächte wünscht, in denen er von seinen Opfern heimgesucht wird. Noch deutlicher tritt das Moment der Selbstermächtigung in Levis spätem Roman Wann, wenn nicht jetzt? zutage. Seine fiktive Gruppe jüdischer Partisaninnen und Partisanen schreckt auch vor gewaltsamen Racheakten an den Deutschen nicht zurück und erkennt, bei allen grundsätzlichen moralischen Skrupeln, die damit einhergehende emotionale Genugtuung an.

Aber es braucht nicht einmal unbedingt Gewalt oder Gewaltdarstellung. Das literarische Schreiben selbst kann gleichermaßen als Akt der Rache und der Selbstermächtigung verstanden werden. Barbara Honigmann sagte in ihrer Tübinger Poetikvorlesung: »Und wenn ich auch nicht genau weiß, warum ich schreibe und überhaupt zu schreiben begonnen habe, ahne ich, dass das meine kleine Rache ist. Seht mich an: Ich bin noch da, bin nicht zerstört, und nichts und niemand wird mich zerstören, solange ich schreibe.«

Der Autor ist Literaturwissenschaftler an der Universität Hamburg. Als Referent nimmt er an dem Seminar der Jüdischen Akademie »Rache – kulturelle Inszenierungen« vom 26. bis 28. November 2025 in Wiesbaden teil.

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