Sachbuch

Susan Neimans Plädoyer mit Schlagseite

Susan Neiman leitet das Einstein Forum in Postdam. Foto: picture alliance / Karlheinz Schindler/dpa-Zentralbild/ZB

Sachbuch

Susan Neimans Plädoyer mit Schlagseite

Die Philosophin verteidigt den Universalismus der Aufklärung, verheddert sich jedoch in einem entscheidenden Aspekt

von Marko Martin  20.12.2023 09:39 Uhr

Susan Neimans aktuelles Buch Links ist nicht woke ist im entsprechenden »juste milieu« eher ungnädig aufgenommen worden. Wahrscheinlich sah man dort die seit dem Jahr 2000 amtierende Leiterin des Potsdamer Einstein Forums als eine der ihrigen an – nicht zuletzt ob einer permanenten »Israel-Kritik«, die eine Art Herzensanliegen der renommierten Philosophin zu sein scheint.

Die oft unsachlichen Verrisse des Buches zeigen damit erneut, dass die selbstherrliche woke Szene (in Deutschland ebenso wie im angelsächsischen Sprachraum) noch nicht einmal Teilkritik verträgt, wie allgemein sie auch vorgetragen sei.

Dabei hat Neiman – womöglich aus Selbstschutz, um nicht zum Opfer rufmörderischer Social-Media-Kampagnen zu werden – in ihrer plausiblen Verteidigung der Werte der Aufklärung und des Universalismus durchaus darauf verzichtet, jene akademischen Koryphäen beim Namen zu nennen, die seit Jahr und Tag ebenjene Werte als »weiße« Camouflage eines angeblich ewig strukturellen Rassismus denunzieren.

Unbedingt zu danken ist Susan Neiman für ihre Spurensuche in den Texten der Aufklärung von Diderot bis Kant, in denen sich schon frühzeitig auch Kolonialismuskritik fand.

Eine Ausnahme macht dabei lediglich das Beispiel des französischen Philosophen Michel Foucault, dessen jegliche Reformbemühungen zynisch verachtendes Schwadronieren hier noch einmal kenntlich gemacht wird – ironischerweise mit Rückgriff auf den klarsichtigen Jean Améry, dessen ebenso luzide Texte zum linken Antisemitismus leider keine Erwähnung finden.

Unbedingt zu danken ist Susan Neiman freilich für ihre Spurensuche in den Texten der Aufklärung von Diderot bis Kant, in denen sich schon frühzeitig auch Kolonialismuskritik fand. »Was die heutigen Aufklärungskritiker vergessen: Die Aufklärung war eine Protestbewegung gegen herrschende Verhältnisse, nicht deren Reflexion. Und zu behaupten, der Rassismus habe sich in den letzten 100 Jahren kaum verändert, käme einer Missachtung der Menschen gleich, die ihr Leben gaben, um ihn zu bekämpfen«, schreibt die Philosophin.

Nicht zufällig war einer der übelsten Universalismus-Verächter der Nazistaatsrechtler Carl Schmitt, von dem der infame Satz stammt: »Wer Menschheit sagt, will betrügen.« Logischerweise sieht Neiman deshalb in weiten Teilen der gegenwärtigen »Identitätspolitik« vor allem reaktionäres Stammesdenken am Werk, den moralisierenden Tribalismus eines quasi ewigen »Wir gegen sie«.

Fatalerweise mischt sich (nicht durchgängig, doch in einigen Passagen) der Scharfsinn mit dem Widersinn.

Das alles ist argumentativ präzise. Fatalerweise nur mischt sich (nicht durchgängig, doch in einigen Passagen) auch hier der Scharfsinn mit dem Widersinn. Denn wie anders ließe sich die aberwitzige Behauptung charakterisieren, deutsche Kulturinstitutionen würden »jüdischen tribalistischen Stimmen« einen besonderen Stellenwert einräumen?

Ebenso abenteuerlich die Behauptung, es falle »den Deutschen schwer, in den Juden noch etwas anderes als nur Opfer zu sehen«. Man muss, um just das Gegenteilige zu erfahren, gewiss nicht nur auf der Neuköllner Sonnenallee unterwegs sein, um deutschen Staatsbürgern arabischer Herkunft bei der grölenden Täter-Opfer-Umkehr zuzuhören; es genügt bereits ein Hineinhorchen in jenes feinsinnig intellektuelle »Aber Israel macht doch auch …«-Milieu, von dem die Philosophin ja selbst Teil ist.

Auch der »out of the blue« geäußerte Vorwurf, Deutsche würden dazu neigen, »die Stimmen der jüdischen Universalisten zu überhören«, ist geradezu lächerlich angesichts der überaus gerechtfertigten Aufmerksamkeit, den etwa die inspirierenden Texte eines Amos Oz oder David Grossman im aufgeklärten Teil der deutschen Öffentlichkeit erfahren.

Trotz alledem: Susan Neimans Plädoyer für den Universalismus verdient Beachtung und Achtung – die freilich noch größer wäre, hätte die Autorin ihre eigenen anti-aufklärerischen Affekte besser unter Kontrolle.

Susan Neiman: »Links ist nicht woke«. Aus dem Englischen von Christiana Goldmann. Hanser Berlin, Berlin 2023, 175 S., 22 €

Kino

Für Hermann Göring lernte Russell Crowe Deutsch

Crowe spielt den Nazi-Verbrecher in »Nuremberg«, einem packenden Thriller über die Nürnberger Prozesse

von Manuela Imre  10.09.2025

Madrid

Spanien fordert erneut Ausschluss Israels vom ESC

Die linksgerichtete spanische Regierung zählt in Europa zu den schärfsten Kritikern des israelischen Militäreinsatzes in Gaza. Nun rückt die Teilnahme des jüdischen Staates am europäischen Gesangswettbewerb erneut in den Fokus

 10.09.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Warum Franz Kafka Challe mit Zimt hätte essen sollen

von Katrin Richter  09.09.2025

Aktivismus

Wie politisch ist Mode?

Protest-Accessoire, Fashion Item und nationales Symbol: die Kufiya und ihre Geschichte

von Ralf Balke  09.09.2025

Kino

1800 Schauspieler und Filmemacher rufen zum Israel-Boykott auf

Die Unterzeichner werfen Israel Völkermord und Apartheid vor. Wer die Initiatoren sind, scheint sie dabei weniger zu interessieren

von Sophie Albers Ben Chamo  09.09.2025

Porträt

Stiller Beobachter

Zurückhaltung ist das Markenzeichen des US-Regisseurs Frederick Wiseman

von Daniel Urban, Katharina Cichosch  09.09.2025

Bundesamt für Statistik

Dieser hebräische Vorname ist am beliebtesten bei Schweizer Eltern

Auch in der Schweiz wählen Eltern weiterhin häufig biblische Namen für ihr Neugeborenes

von Nicole Dreyfus  09.09.2025 Aktualisiert

Berlin

Der Plan der Populisten

Peter R. Neumann und Richard C. Schneider stellen ihr neues Buch über das schleichende Sterben der Demokratie vor

von Detlef David Kauschke  09.09.2025

Berlin

Ausstellung über Hamas-Angriff auf israelisches Nova-Festival

Nach Stationen in Israel, den USA, Argentinien und Kanada kommt die Schau in die deutsche Hauptstadt

 08.09.2025