In seinem Film von 2013, Der Letzte der Ungerechten, unterhält sich Claude Lanzmann mit Benjamin Murmelstein, dem einstigen Vorsitzenden des Judenrates von Theresienstadt. Der Titel bezieht sich auf den Roman von André Schwarz-Bart, Der Letzte der Gerechten. Rabbiner Murmelstein spricht über sein hohes Alter, vom Überleben nach dem Krieg, der Einsamkeit des Überlebenden. Er sagt, jedes Lebensjahr über 70 sei ein Geschenk Gottes.
Claude Lanzmann ist von Gott, an den er vermutlich so wenig glaubte wie ich, reichlich beschenkt worden: Er starb am 5. Juli 2018 im Alter von 92 Jahren in Paris und wurde auf dem Friedhof Montparnasse unweit von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir beigesetzt.
Ich hatte das Glück, ihm mehrmals zu begegnen. Das erste Mal im Januar 2009 in Berlin, im Renaissance-Theater. Ein Zeitungsfoto erinnert daran, auf diesem zeige ich Lanzmann, in welcher Höhe sich die Dolmetscherkabine befindet. Die Veranstalter des Abends hatten mich gebeten, nach der Lesung den Autor zu begleiten, sie hatten zwei Karten für einen Opernbesuch reserviert.
Claude Lanzmann zog es vor, den Abend mit mir in der »Paris Bar« in der Kantstraße zu verbringen. Lanzmann gehörte von Anfang an zu den Stammgästen des 1950 eröffneten Lokals. Ab 1947 hatte er in Tübingen Philosophie studiert und danach als Lektor an der Freien Universität Berlin gearbeitet, außerdem das 1950 im Maison de France am Kurfürstendamm neu gegründete französische Kulturzentrum geleitet.
Claude Lanzmann wurde als Enkel jüdischer Immigranten aus Osteuropa geboren, am 27. November 1925 in Bois-Colombes, nordwestlich von Paris. Als sich 1940 die Verfolgung der Juden in Frankreich intensivierte, nahm sein Vater, der sich in der Résistance engagierte, Claude, seinen jüngeren Bruder und die Schwester mit in die Auvergne. Er brachte ihnen bei, wie sie sich unauffällig bewegen und in Sicherheit bleiben konnten. Als 18-jähriger Schüler organisierte Claude Lanzmann 1943 am Lycée Blaise Pascal in Clermont-Ferrand den Widerstand und beteiligte sich an Partisanenkämpfen.
Nach seinen Berliner Jahren veröffentlichte Lanzmann, wieder nach Frankreich zurückgekehrt, in der Pariser Tageszeitung »Le Monde« einige Texte unter der Überschrift »Deutschland hinter dem Eisernen Vorhang«. Sartre las diese Beiträge und lud ihn 1952 zur Mitarbeit an seiner Zeitschrift »Les Temps modernes« ein. Später wurde Lanzmann deren Mitherausgeber. Zu den Mitbegründerinnen und Redaktionsmitgliedern der Zeitschrift gehörte auch Simone de Beauvoir.
»Shoah«, mit dem Lanzmann 1985 weltbekannt wurde, war nicht sein erster Film.
Einige Jahre lang waren Lanzmann und sie ein Liebespaar. Nicht ohne Stolz bemerkte er später, er sei der Mann, mit dem Simone de Beauvoir am Längsten in einem eheähnlichen Verhältnis gelebt habe. Er selbst war insgesamt dreimal verheiratet – 1963 in erster Ehe mit der französischen Schauspielerin Judith Magre, 1974 in einer zweiten mit der deutschen Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff und schließlich 1995 mit der Epidemiologin Dominique Petithory.
Nicht nur als Ehefrauen oder eheähnliche Gefährtinnen spielten Frauen eine wichtige Rolle in Lanzmanns Leben. Auch an seinen Werken arbeiteten sie maßgeblich mit – oft jedoch, ohne später eine der Bedeutung ihrer Beiträge entsprechende Würdigung zu erfahren. So diktierte er seine Autobiografie Der patagonische Hase der Sartre-Forscherin und Mitarbeiterin von »Les Temps modernes«, Juliette Simont. Und Ziva Postec, die Ehefrau des israelischen Dokumentarfilmers Jean-Pierre Lledo, schnitt und montierte sein Lebenswerk Shoah.
Im September 1960 gehörte Lanzmann zu den Unterzeichnern des »Manifests der 121«, der »Erklärung über das Recht zum Ungehorsam im Algerienkrieg«. Gemeinsam mit mehreren Mitunterzeichnern wurde er verhaftet und verhört. Bis 1970 arbeitete er hauptsächlich als Journalist und für Les Temps modernes. Dann begann er, in seiner völlig eigenen Weise, Filme zu drehen.
Shoah, mit dem Lanzmann 1985 weltbekannt wurde, war nicht sein erster Film. Zwölf Jahre zuvor, 1973, zeigte er beim Festival von Cannes einen 185-minütigen Dokumentarfilm, der inhaltlich und ästhetisch eng mit Shoah verbunden ist: Warum Israel (Pourquoi Israël). Gedreht hatte er ihn noch vor dem Jom-Kippur-Krieg vom Oktober 1973. In diesem Film stellt er Fragen, die durch den jüngsten Krieg mit neuer Dringlichkeit in den Vordergrund rückten: Was heißt es, Israeli zu sein? Warum gibt es Israel? Warum ist seine Existenz unverzichtbar – und um welchen Preis?
Der Film besteht aus Gesprächen und Alltagsszenen, er verzichtet auf eine lineare Erzählung sowie auf begleitende, erklärende oder interpretierende Kommentare – und löste heftige Kontroversen aus. Inzwischen ist sein Wert als historisches Dokument anerkannt, das ein Bild der israelischen Gesellschaft kurz vor dem Jom-Kippur-Krieg zeichnet. Über die Beziehung seines ersten Filmes zu seinem Meisterwerk sagte Lanzmann rückblickend: »Warum Israel ist der Film der Rückkehr zum Leben; Shoah der der Rückkehr des Todes.«
Shoah dauert neun Stunden und 26 Minuten. Die 220 Stunden langen Filmaufzeichnungen, die zu seiner Vorbereitung gedreht wurden, werden im United States Holocaust Memorial Museum in Washington aufbewahrt, ebenso lange dauernde Interviews fanden ihre Aufnahme im Berliner Jüdischen Museum. 2023 wurde der Film ins Weltdokumentenerbe der UNESCO aufgenommen. Das konnten wir 2010 in der Paris Bar natürlich nicht vorausahnen. Dagegen spielten die sprachlichen Unterschiede im Französischen und Deutschen in unserem Gespräch eine große Rolle – darunter die unterschiedliche Bedeutung von »Holocaust« und »Schoa«.
Über den Film Shoah sagte Simone de Beauvoir: »Ich hätte mir niemals eine solche Verbindung von Grauen und Schönheit vorstellen können. Natürlich neigt das eine nicht dazu, das andere zu verdecken; das ist keine Frage der Ästhetik: im Gegenteil unterstreicht es dieses mit einer derartigen Erfindungskraft und einer derartigen Strenge, dass einem bewusst wird, ein großartiges Werk zu betrachten. Ein reines Meisterwerk.«
1994 stellte Lanzmann seinen mehr als fünfstündigen Film Tsahal vor. Der Titel ist die hebräische Bezeichnung für die israelische Armee. Lanzmann verstand diesen Film als eine Art Brücke zu Shoah: zwischen der Ermordung weitgehend wehrloser Juden (und dem heldenhaften Widerstand einiger) und der späteren Entschlossenheit, eine solche Ausrottung niemals wieder zuzulassen.
Einige Jahre lang waren Lanzmann und Simone de Beauvoir ein Liebespaar.
In den vielen Gesprächen blicken Militärs aller Ränge, vom Soldaten bis zum General, auf sechs Kriege zurück, die für das Fortbestehen der israelischen Gesellschaft entscheidend waren. Die Gespräche betonen den besonderen Charakter der israelischen Armee, in der alle jungen Männer und Frauen einen dreijährigen Militärdienst leisten (mit Ausnahme der Ultraorthodoxen und der arabischen Staatsbürger), und zwar in dem Bewusstsein, dass Israel keinen Krieg verlieren darf, ohne seine eigene Existenz zu riskieren.
Dabei ist sich Lanzmann des unlösbaren Widerspruchs bewusst: Eine starke Armee ist für Israel überlebensnotwendig, aber keine Armee führt Krieg, ohne zu töten, auch Unschuldige. Lanzmann versucht dem Dilemma zwischen Moral und »Realpolitik« zu entkommen, wenn er sagt: »Israelische Soldaten töten, aber sie sind keine Killer.«
Aus dem reichen Material, das Lanzmann für Shoah gedreht, aber nicht verwendet hatte, entstand 2001 der Dokumentarfilm Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr. Im Mittelpunkt steht ein Gespräch mit Yehuda Lerner, der als 16-jähriger Zwangsarbeiter nach Sobibor kam und am 14. Oktober 1943 am Aufstand unter der Führung von Alexander Petscherski teilnahm. Lerner erzählt, wie er im Vernichtungslager Sobibor einen deutschen Offizier erschlug und damit den Aufstand einleitete, der zu einem teilweise erfolgreichen Ausbruch aus dem Lager führte. Das Lager wurde aufgelöst, seine Existenz verheimlicht.
Der 95-minütige Film nutzt die bewährte Interview-Ästhetik. Dank der klaren Trennung von Gut und Böse, dem Fehlen von »Grauzonen« und der eindeutigen Situation, in der sich die handelnden Personen befinden, entsteht kein Konflikt zwischen Mittel und Zweck – Letzterer rechtfertigt hier eindeutig die Mittel. Im Unterschied zu den vorangegangenen Filmen entzieht sich der Film einem moralischen Urteil.
Ebenfalls aus Aufnahmen, die für Shoah entstanden waren, produzierte Lanzmann 2010 den Film Der Karski-Bericht. Auslöser für die späte Veröffentlichung war der im Jahr zuvor erschienene Roman Jan Karski von Yannick Haenel, in dem der Autor das Treffen von Karski und Roosevelt in einer Weise darstellt, die Lanzmann empörte. Er griff auf ein 40-minütiges Interview zurück, das er für Shoah mit Karski geführt hatte, das aber wegen der Filmlänge ausgespart worden war.
Seit dem 7. Oktober 2023 denke ich immer wieder an das Gespräch mit Claude Lanzmann in der Paris Bar zurück. Wenn Gott Lanzmann noch mehr Jahre geschenkt hätte und er den 7. Oktober und den anschließenden Gaza-Krieg noch erlebt hätte – was für einen Film hätte er wohl daraus gemacht? Diesen Film wird es nicht geben, doch vielleicht andere, die das Beste aus Claude Lanzmanns Erbe aufgreifen und fortführen. So wird er weiterleben, über seinen 100. Geburtstag hinaus.