Literatur

Philosoph der Urbanität

György Konrád Foto: imago

Literatur

Philosoph der Urbanität

György Konráds Essaytagebuch »Das Pendel«

von Wolf Scheller  21.05.2012 18:32 Uhr

Was für ein Leben in der Rückblende! Die Kindheit im Haus eines jüdischen Großkaufmanns im ostungarischen Debrecen, der drohenden Deportation durch die faschistischen Pfeilkreuzler und Eichmanns Beamte mit Mühe und Not entgangen, aufgewachsen im Kommunismus, schikaniert und mit Schreibverbot belegt. In seinem autobiografischen Essaytagebuch mit dem die eigenen verschlungenen Lebenswege charakterisierenden Titel Das Pendel gelingt György Konrád ein erstaunlicher Hiatus zwischen kontemplativer Betrachtung und klarsichtiger historischer Analyse.

mitteleuropa Der inzwischen 79-jährige Schriftsteller hatte nach der Niederschlagung des Volksaufstands von 1956 Ungarn nicht verlassen, anders als viele Landsleute. Der studierte Soziologe blieb in seiner Budapester Vorortwohnung, schrieb und schrieb, entdeckte den Mitteleuropa-Gedanken und entwickelte sich unter der fürsorglichen Belagerung durch die permanent misstrauische Staatsmacht zum Dissidenten. Als strenger Beobachter der gesellschaftlichen Entwicklung hatte György Konrád in diesen Jahren vor der Wende den Kurs der »Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht« genau verfolgt und war zu dem allerdings nicht so überraschenden Ergebnis gelangt, dass sich eine Avantgarde, wenn sie sich verselbständigt, auch zwangsläufig vom Volk entfernt.

Mit solchem Verständnis ausgerüstet, wurde Konrád eine Art Symbolfigur für die ungarische Opposition und eine wichtige Stimme im immer lauter werdenden mitteleuropäischen Kanon. Dann begann er mit dem Romaneschreiben, und wiederum konnte ihn sein Publikum vor allem als einen essayistischen Kopf bewundern, einen Philosophen der Urbanität, der sich in die Belletristik verirrt hatte. Nach der Wende tastete er sich behutsam durch das Gestrüpp der westlich dominierten Medienwelt, erhielt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, wurde zum internationalen PEN-Präsidenten gewählt und stand jahrelang an der Spitze der Berliner Akademie der Künste.

mut Ein Dissident, aber kein Kämpfer – so sieht György Konrád sich heute, an den schönen Dingen des Lebens interessiert, auch ein Familienmensch: »Ich entglitt den Lehrern und Religionen, Politikern, Akademien, meinem jüngsten Kind mache ich keine Vorschläge. Will keinen Einfluss ausüben, verkaufe Kontemplation.« Wir folgen dem Autor bei seiner Beobachtung des »American Way of Life« als Professor für Vergleichende Literaturgeschichte in Colorado Springs. Wir begleiten ihn und seine dritte Frau Jutka bei ihren Spaziergängen durch Berlin und kommen doch immer wieder zurück in die ungarische Wirklichkeit von heute, in der Konrád schon bald nach 1989 die Wiederkehr antisemitischer und faschistischer Rhetorik entdeckt.

György Konrád ist ein höchst unbefangener Beobachter der großen wie kleinen Geschehnisse, ein Pointillist, den nicht billiger Nonkonformismus bewegt, sich zu wichtigen Themen zu äußern. Der Leser spürt, wie mächtig die Schatten der Vergangenheit über diesem Leben liegen. Verfolgung, Gewalt und Repression in den Phasenverschiebungen des vorigen Jahrhunderts haben György Konrád mit einem leisen nachdenklichen Misstrauen ausgestattet.

Er vertritt unkonventionelle Ansichten, was ihm in seinem gesellschaftlichen Engagement intellektuelle Eigenständigkeit sichert, hat den Mut, nicht immer dem zu entsprechen, was sein Publikum von ihm erwartet. So war er gegen das Eingreifen der Nato in Jugoslawien; er befürwortete George W. Bushs Krieg gegen Saddam Hussein. Und auch zur historischen Schuldfrage der Deutschen in der Hitlerzeit vertritt Konrád eine klare Position: »Eine deutsche Generation hat die europäischen Juden zu existenziellen Parias gemacht, wodurch sie selbst zu moralisch Ausgestoßenen geworden ist. Doch wer nichts getan hat, ist auch keinTäter.«

György Konrád: »Das Pendel. Essaytagebuch.« Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke. Suhrkamp, Berlin 2012, 244 S., 21,90 €

Dorset

»Shakespeare In Love« - Dramatiker Tom Stoppard gestorben

Der jüdische Oscar-Preisträger war ein Meister der intellektuellen Komödie. Er wurde 88 Jahre alt

von Patricia Bartos  01.12.2025

Meinung

Gratulation!

Warum die Ehrung der ARD-Israelkorrespondentin Sophie von der Tann mit dem renommierten Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis nicht nur grundfalsch, sondern auch aberwitzig ist

von Lorenz Beckhardt  01.12.2025 Aktualisiert

Fernsehen

Abschied von »Alfons«

Orange Trainingsjacke, Püschelmikro und Deutsch mit französischem Akzent: Der Kabarettist Alfons hat am 16. Dezember seine letzte Sendung beim Saarländischen Rundfunk

 30.11.2025 Aktualisiert

Gerechtigkeit

Jüdische Verbände dringen auf Rückgabegesetz 

Jüdische Verbände dringen auf Rückgabegesetz Jahrzehnte nach Ende des NS-Regimes hoffen Erben der Opfer immer noch auf Rückgabe von damals geraubten Kunstwerken. Zum 1. Dezember starten Schiedsgerichte. Aber ein angekündigter Schritt fehlt noch

von Verena Schmitt-Roschmann  30.11.2025

Berlin

Späte Gerechtigkeit? Neue Schiedsgerichte zur NS-Raubkunst

Jahrzehnte nach Ende der Nazi-Zeit kämpfen Erben jüdischer Opfer immer noch um die Rückgabe geraubter Kunstwerke. Ab dem 1. Dezember soll es leichter werden, die Streitfälle zu klären. Funktioniert das?

von Cordula Dieckmann, Dorothea Hülsmeier, Verena Schmitt-Roschmann  29.11.2025

Interview

»Es ist sehr viel Zeit verloren gegangen«

Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, zieht eine Bilanz seiner Arbeit an der Spitze der »Beratenden Kommission NS-Raubgut«, die jetzt abgewickelt und durch Schiedsgerichte ersetzt wird

von Michael Thaidigsmann  29.11.2025

Hollywood

Die »göttliche Miss M.«

Die Schauspielerin und Sängerin Bette Midler dreht mit 80 weiter auf

von Barbara Munker  28.11.2025

Literatur

»Wo es Worte gibt, ist Hoffnung«

Die israelische Schriftstellerin Ayelet Gundar-Goshen über arabische Handwerker, jüdische Mütter und ihr jüngstes Buch

von Ayala Goldmann  28.11.2025

Projektion

Rachsüchtig?

Aus welchen Quellen sich die Idee »jüdischer Vergeltung« speist. Eine literarische Analyse

von Sebastian Schirrmeister  28.11.2025