Umfrage

Pessach mal anders

Foto: Getty Images / istock

Rafael Seligmann, Publizist und Schriftsteller (»Lauf, Ludwig, lauf!«)
Ich feiere Pessach dieses Jahr mit meiner Frau. Wir haben sonst jedes Jahr etwa 30 Leute zu Gast. Ich war Einzelkind, deshalb habe ich gerne viele Freunde um mich. Wir hatten jedes Jahr eine Mischung aus einsamen Menschen, Freunden und Geschäftspartnern. Das können wir dieses Jahr nicht tun, aber ich rufe vor allem Singles im Bekanntenkreis vorher an und versuche sie ein bisschen aufzubauen. Letztes Jahr haben wir die Frage in die Runde gestellt: Was ist Freiheit? Mein Lektor sagte, für ihn ist Freiheit, zu singen. Dann hat er Brecht-Lieder gesungen. Daran werden meine Frau und ich denken, und wir sehen, dass Freiheit noch viel existenzieller ist. Jetzt geht es um die Freiheit zu leben, in Gesundheit zu leben. Die Grundsituation ist für uns gar nicht so anders als sonst, da wir immer in unserer Wohnung feiern, entweder hier oder in Israel, aber die Gesamtsituation ist existenzieller. Den Afikoman darf meine Frau suchen, denn sie ist die jüngere von uns. Wir sind ein bisschen traurig, dass die Kinder und Freunde nicht da sind und wir Einsame nicht einladen können. So sind es eben nur wir beide und der Hund. Und wir hoffen, dass es nächstes Jahr ein Fest der Freiheit wird.

Adriana Altaras, Schauspielerin und Autorin (»Die jüdische Souffleuse«)
Pessach dieses Jahr wird sehr klein ausfallen. Meine Jungs und ich. Aber ich möchte es unbedingt feiern. Wann könnte man besser und aus vollem Herzen sagen: »Dieses Jahr hier, nächstes Jahr in Jerusalem …«? Und wann von den Heuschrecken singen und den anderen Plagen? Kaum ein Jahr, in dem das Fest mir wichtiger schien. In diesem Sinne: Chag sameach!

Jascha Nemtsov, Pianist und Musikwissenschaftler
Eine ungünstigere Situation für Pessach kann man sich in friedlichen Zeiten kaum vorstellen. Das jüdische Fest der Freiheit findet dieses Jahr unter extremen Freiheitsbeschränkungen statt. Die Freiheit hat in unserer Gesellschaft in jüngster Zeit ohnehin schon viel gelitten, nun sind wir alle – Juden wie Nichtjuden – zu Sklaven des Coronavirus geworden, und ein Moses, der uns aus diesem Albtraum herausführen könnte, ist nicht in Sicht. Dazu kommt, dass die jüdischen Häuser von dieser Plage keineswegs verschont wurden, ganz im Gegenteil, überall in der Welt sind etwa die orthodoxen Juden wegen mangelnden »Social Distancing« sogar überdurchschnittlich oft infiziert. Frustration macht sich breit. Ein Freund aus Toronto schrieb mir gerade: »We’re doing nothing for Passover this year. Null.« Sollte man das Fest tatsächlich lieber ausfallen lassen? Für unsere Familie kommt das jedenfalls nicht in Frage. Das große Paket mit dem Pessach-Proviant ist kürzlich angekommen. Schließlich trägt jeder seine Freiheit in sich selbst. Diese Freiheit – die Freiheit des Geistes – kann einem kein Gesundheitsminister nehmen.

Rebecca Siemoneit-Barum, Schauspielerin (»Lindenstraße«)
Meine Freiheit und Unabhängigkeit ist mir das wichtigste auf der Welt, und so hatte ich zu Beginn der Beschränkungen auch am meisten damit zu kämpfen, nicht selbst entscheiden zu können, was ich tue und mit wem ich zusammen sein will. Ich bin seit dem 11. März nur noch zu Hause gewesen und natürlich dankbar, mit meiner Familie zusammen sein zu dürfen, aber meine Arbeit und die Bewegungsfreiheit fehlen mir sehr. 2020 ist bereits mein zweites Jahr ohne richtiges Pessachfest. 2019 verbrachte ich Pessach mit meinem Sohn im Krankenhaus, und in diesem Jahr verhindert die Corona-Krise eine große Tafel. Ich bin es gewohnt, Pessach mit erweiterter Familie und Freunden zu feiern, meist war ich beispielsweise in Berlin bei Freunden eingeladen. Jetzt sind tatsächlich nur meine Kinder dabei, und ich überlege ernsthaft, mit Freunden aus aller Welt die Haggada live per Videochat gemeinsam zu lesen.

Pavel Feinstein, Zeichner und Maler
Dieses Jahr gibt es eben keine große Gesellschaft. Normalerweise sind wir 15 bis 18 Leute, die den Seder zusammen feiern. Nun wird das Ganze im engsten Kreis der Familie stattfinden. Es wird wohl auch keine solche Fressorgie geben wie sonst, wenn viele Menschen ihren Beitrag leisten. Also – keine Hühnerbrühe mit Knejdelach ... Mal sehen, wie es wird ... Pessach Sameach!

Chaim Noll, Schriftsteller (»Schlaflos in Tel Aviv«)
Wir werden Pessach dieses Jahr anders feiern als sonst: ohne Synagoge, ohne Familientreffen an der Sedertafel. Es wird keine Gottesdienste geben, keine Toralesung. In Israel sind Zusammenkünfte derzeit nur in besonderen Fällen erlaubt. Meine Frau und ich werden am Sederabend allein sein, ohne Kinder und Enkel wie sonst. Kein großes Festessen, kein lauter Gesang, kein Durcheinander von jungen Stimmen. Auch unsere Nachbarn Yael und Yaakov werden allein sein, die im vergangenen Jahr 30 Gäste zum Seder hatten. Wir werden die Haggada schel Pessach lesen wie jedes Jahr, aber zu zweit, ohne den Spaß, den die Kinder hatten, es wird eine eher nachdenkliche Lektüre sein. Dabei werden wir den Optimismus genießen, den dieser alte Text ausstrahlt. Auch dort ist von einer magefa, einer »Epidemie«, die Rede und von anderen Heimsuchungen, die unsere Vorfahren überstanden haben. Pessach ist ein symbolisches Fest, wir erinnern uns an die Rebellion der alten Hebräer gegen Pharaos Knechtschaft, an den Exodus durch die Wüste und an die Gefahren und Bedrohungen, die das jüdische Volk seither überstanden hat.

Jeanine Meerapfel, Filmregisseurin und Präsidentin der Berliner Akademie der Künste
Pessach ist in erster Linie eine wunderbare Erzählung. Martin Buber schrieb: »Zu Pessach wird jede feiernde Generation mit der ersten vereint und mit allen, die ihr folgen ...« Dieser Tradition bin ich verbunden, in jeder Zeit, auch in der Zeit der Pandemie. In meiner Familie in Buenos Aires wurde am Sederabend – wie bei jeder jüdischen Familie – an die Erzählung der Befreiung der Israeliten aus der Versklavung in Ägypten erinnert, aber immer auch an alle Menschen gedacht, die unter irgendeiner Form von Unterdrückung leiden. Jetzt denken wir an all diejenigen, die unter diese Epidemie leiden müssen. An die, die krank sind. An die, die kein Zuhause haben. In Berlin habe ich immer mit Freunden gefeiert, meistens im Gemeindehaus in der Fasanenstraße. Das fällt weg. Leider habe ich nicht vorgesorgt und konnte nicht wie jedes Jahr im KaDeWe meine Lieblingssorte Mazze kaufen ... Ich bin zwar nicht religiös, aber ich werde sicher die alte Haggada meines Großvaters (die auf Deutsch und Hebräisch geschrieben ist) in die Hand nehmen und darin lesen.

Eliyah Havemann, Autor (»Wie werde ich Jude?«)
An Pessach feiert man mit den Kindern. Um sie dreht sich alles, denn an sie geben wir die Geschichte vom Auszug aus Ägypten weiter, der ja die Geburtsstunde des jüdischen Volkes ist. Unser Ältester wird am Tag nach Pessach acht Jahre alt, und es gab seit seiner Geburt keinen Seder, an dem wir nicht irgendwo eingeladen waren. Unsere Gastgeber waren immer große Familien, und es war toll für unsere Kinder, diesen Abend mit einer ganzen Gruppe von Kindern zu erleben: mit Ratespielen, kleinen Preisen für richtige Antworten und in fröhliches Kindergeschrei überschlagendes gemeinsames Singen der Pessachlieder. Dieses Jahr feiern wir das erste Mal allein. Wir haben Nachbarn, und unsere Balkone sind etwa vier Meter auseinander. Auch sie haben Kinder, und auch sie feiern dieses Jahr alleine Pessach. Vielleicht schaffen wir es ja, einen Seder von Balkon zu Balkon zu gestalten, der alle Kinder miteinbezieht. Das wäre schön.

Michael Wolffsohn, Historiker und Buchautor (»Tacheles – Im Kampf um die Fakten in Geschichte und Politik«)
Nicht nur die vier Söhne der Haggada stellen heuer Fragen. Wir lesen: »Wehi scheamda ... Die Tora hat uns immer geleitet« bzw. geschützt. Wirklich immer? Und jetzt? Man denke daran, dass besonders viele in Synagogen Betende dort mit dem Virus infiziert wurden. In Jerusalem, Bnei Brak oder Williamsburg. »Die Tora schützt uns«, sagen viele Orthodoxe – und bekommen Corona. Der Gegenbeweis ist eindeutig. Das Festhalten an religiösen Geboten ist unter solchen Umständen nahezu selbstmörderisch und gemeingefährlich. Doch Vorsicht. Sagen nicht zuletzt Mediziner, Psychosomatiker, dass innerer, seelischer Halt den Menschen auch medizinisch stärkt, vor Erkrankungen schützt oder hilft, sie zu heilen? So ist es. Ergo wäre das Festhalten am religiösen Gebot auch medizinischer Halt. Die Infektionsherde legen andere Schlussfolgerungen nahe. Doch warum soll die Psychosomatik bezogen auf Religiöse nicht gelten? Sie gilt. Aber: Wer sich wissend in Gefahr begibt, gefährdet sich sowie andere und fordert das Schicksal, letztlich also Gott, heraus. So wird, ausgehend vom Glauben an Gott, die subjektiv fromm gemeinte Tat objektiv fast so etwas wie eine Provokation Gottes. Noch einmal: Mehr als vier Kinderfragen …

Zusammengestellt von Ingo Way

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