Begegnung

Papiere, bitte

An den Wohnzimmerwänden hängen Schwarz-Weiß-Fotos: Porträts und Stadtlandschaften. Das einfallende Licht wird durch helle Vorhänge gedämpft. Adolfo Kaminsky hat empfindliche Augen. Er ist 85 Jahre alt und auf einer Seite fast erblindet. Eine Berufskrankheit: Zwischen 1943 und 1971 war Kaminsky der meistgesuchte Fälscher von Ausweispapieren in Frankreich. Mit seiner Arbeit hat er vielen Tausend Menschen geholfen: Juden während der deutschen Besatzung, später europäischen Antifaschisten und Revolutionären in der Dritten Welt. Jetzt ist seine Biografie erschienen: Ein Fälscherleben.

judenrazzia Adolfo Kaminsky wurde am 1. Oktober 1925 in Argentinien geboren. Frankreich hatte seine russisch-jüdischen Eltern nach der Oktoberrevolution ausgewiesen. In den späten 30er-Jahren gelang es den Kaminskys, nach Frankreich zurückzukehren. Adolfo fing eine Lehre als Färber an, bis er mit seinen Brüdern und dem Vater 1942 bei der großen Judenrazzia verhaftet und im Übergangslager Drancy bei Paris drei Monate lang interniert wurde. Dank der Intervention des argentinischen Konsulats entgingen die Kaminskys der Deportation in die Vernichtungslager.

Adolfo tauchte in Paris unter, nannte sich »Julien Keller« und begann in einer heimlich eingerichteten Lichtdruckwerkstatt mit dem Fälschen von Ausweisen, Mietverträgen, Führerscheinen und Lebensmittelkarten. Letz- tere waren für untergetauchte Juden und Résistancemitglieder oft wichtiger als Personaldokumente, denn wer in Kriegszeiten auf Essensrationen verzichtete, machte sich sofort verdächtig. Bis zu 500 Dokumente fälschte Kaminsky in einer Woche, schnitzte Stempel, perforierte Gebührenmarken, erfand Namen. Geld nahm er dafür nie. Das, glaubt er, hat ihn davor bewahrt, verraten zu werden.

cohn-bendit Nach der Befreiung fälschte Kaminsky weiter, jetzt für antikolonialistische Revolutionäre und Widerstandskämpfer gegen die Diktaturen in Lateinamerika, Spanien, Portugal und Griechenland. Auch Daniel Cohn-Bendit gehörte zu seinen »Kunden«.

Für den Studentenführer, den die französische Regierung nach den Mai-Unruhen 1968 ausgewiesen hatte, stellte er Papiere her, damit er als Tourist die deutsch-französische Grenze passieren und bei einer Kundgebung in Paris auftreten konnte. Cohn-Bendit wusste, dass die Franzosen ihn dort verhaften würden, aber das war beabsichtigt. Eine »medienwirksame, aber unnötige Fälschung« sei das gewesen, meint Kaminsky im Nachhinein.

sarah Aufgeschrieben hat die Geschichte Kaminskys Tochter Sarah. Die 33-Jährige ist Schauspielerin. Von dem abenteuerlichen Leben ihres Vaters wusste sie lange nichts. Sie kannte ihn nur als Streetworker, der jugendlichen Straftätern bei der Resozialisierung half und ihnen das Fotografieren beibrachte. Sarah Kaminsky ist in Algerien geboren.

Dorthin war ihr Vater 1971 aus Frankreich geflohen. Er befürchtete damals, aufgeflogen zu sein. Zudem fühlte der Fälscher sich nach Jahrzehnten im Untergrund »verbrannt«, ertrug es nicht länger, ein »Gefangener einsamer Geheimnisse« zu sein. In Algier wurde Kaminsky Dozent für Fotografie und verliebte sich in eine junge Anwältin namens Leila, Tochter eines progressiven Imams. Die beiden heirateten, bekamen Kinder. 1982 machte Leila Adolfo klar, dass es besser sei, Algerien mit ihren »drei kleinen Mischlingen« zu verlassen. »Sie spürte, dass die Welle des religiösen Fanatismus nicht wieder verebben würde.« Die Familie reiste ohne Gepäck, ohne Aussicht auf Arbeit, mit nichts als einem dreimonatigen Touristenvisum nach Paris. Sarah war damals drei Jahre alt.

vorleben Vor acht Jahren begann die Tochter, ihrem Vater Fragen nach seinem Vorleben zu stellen. Sie hatte bis dahin davon stets nur in Andeutungen gehört, wenn Männer wie der Sartre-Vertraute Francis Jeanson zu Besuch kamen und von Adolfos Einsatz für Kämpfer im algerischen Unabhängigkeitskrieg erzählten.

Stück für Stück entdeckte sie in Gesprächen mit ihrem Vater und früheren Weggefährten seine abenteuerliche Geschichte und beschloss, sie aufzuschreiben. 2010 kam das Buch in Frankreich heraus. Wo immer Vater und Tochter seitdem gemeinsam auftreten, erhalten sie stehende Ovationen.

Adolfo Kaminsky hat seine Jahrzehnte in der Illegalität mit gesundheitlichen Schäden und Einsamkeit bezahlt. Trotzdem bereut er nichts. Leise spricht der alte Mann von dem großen Glück, Menschen retten zu können. »Ich kam dank des Einsatzes des argentinischen Konsulats im Winter 1942 aus dem Lager Drancy heraus«, sagt er, »aber es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre geblieben und in den Zug nach Auschwitz gestiegen, aus Solidarität mit den Todgeweihten«. Er schaut auf und lächelt. Sarah fasst ihn am Arm.

Sarah Kaminsky: »Adolfo Kaminsky. Ein Fälscherleben«. Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer. Kunstmann, München 2011, 224 S., 19,90 €

Bonn

Beethoven-Haus zeigt Ausstellung zu Leonard Bernstein

Die lebenslange Beschäftigung des Ausnahmetalents mit Beethoven wird dokumentiert

 25.04.2024

Potsdam

Chronist der neuen Weiblichkeit

Das Museum Barberini zeigt Modiglianis Menschenbilder in neuem Licht

von Sigrid Hoff  25.04.2024

München

Ausstellung zeigt Münchner Juden im Porträt

Bilder von Franz von Lenbach und anderen sind zu sehen

 25.04.2024

Wien

Spätwerk von Gustav Klimt für 30 Millionen Euro versteigert

Der Künstler malte das »Bildnis Fräulein Lieser« kurz vor seinem Tod

 25.04.2024

Los Angeles

Barbra Streisand: Lovesong als Zeichen gegen Antisemitismus

Für die Serie »The Tattooist of Auschwitz« singt sie das Lied »Love Will Survive«

 25.04.2024

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024