Chilly Gonzales

Nur keine Wiederholung!

Nur echt mit Bademantel: der kanadische Musiker Chilly Gonzales Foto: dpa

Dieser Mann ist kaum zu fassen. Jason Charles Beck alias Chilly Gonzales steht auf der Bühne und spielt lärmende Elektromusik. Später sitzt er im Bademantel am Konzertflügel und kaspert herum, derweil die Wiener Philharmoniker, die ihn dabei begleiten, einen irritierten Eindruck machen. Schließlich entlockt der 46-Jährige dem Klavier zarte, verträumte Töne – als ob Staub unter den Tasten wäre und Eric Satie auf geheimnisvolle Weise seine Hände führen würde.

In seinem Dokumentarfilmdebüt porträtiert Philip Jedicke das Multitalent Gonzales als ästhetischen Schwerarbeiter. Ein Interview, das die Schriftstellerin Sibylle Berg mit dem Sänger und Entertainer führt, dient als thematische Klammer. In diesem vergleichsweise konventionellen Frage-und-Antwort-Spiel erzählt Gonzales von seiner Jugend in Montreal als Kind von jüdischen Eltern, der Flucht seiner Großeltern vor den Nazis von Ungarn nach Kanada im Jahr 1941, dem Geschäftsinstinkt seines Vaters, eines reichen kanadischen Bauunternehmers, der Rivalität mit seinem Bruder, dem renommierten (Film-)Musiker Christophe Beck (Die Eiskönigin), und von seiner Übersiedelung nach Berlin, wo er sich zunächst als Barpianist durchschlug, bevor ihm der Durchbruch gelang.

stakkato Während Wegbegleiter, Studiotechniker, Freunde und Bewunderer zu Wort kommen, wird dieser biografische Rückblick illustriert mit einer Fülle von Familienfotos, mit Homevideos, Archivfilmen und Konzertmitschnitten. Zumindest in der ersten halben Stunde des Films wird man hineingesogen in diesen stakkatoartigen Bilderfluss, der stets neue Aspekte eines anarchischen Gestaltungswillens offenbart. Gonzales: der Künstler, der sich auf obsessive Weise permanent neu zu erfinden versucht. Nur keine Wiederholung!

Trotz dieses Facettenreichtums gerät die mit 80 Minuten recht knapp geratene Dokumentation an eine innere Grenze. Wird der verschwitzte Genius nach der unberechenbaren Vielseitigkeit seines Schaffens gefragt, dann ist seine Antwort keine brave Reflexion über Kunst. Die vermeintliche Erklärung ist eine weitere Facette seiner wild wuchernden Kreativität.

Man spürt dabei, dass der Künstler sich nicht in die Karten schauen lässt. Gewiss, der Film besticht mit seiner übersichtlichen Gestaltung. Die biografische und die ästhetische Entwicklung des Sängers werden akkurat nachgezeichnet. Irgendwann aber beginnt man jenen Moment zu vermissen, in dem die Dokumentation über das Protokollarische hinaus einen eigenen, spezifisch filmischen Zugriff auf den Protagonisten entwickelt.

Schranke Doch hier setzte der Künstler bewusst eine Schranke: »Gonzo«, so der Regisseur im Interview, hatte »vorab eine einzige Bedingung gestellt: keine privaten Situationen zu filmen«. Jedicke hat sich an diese Vereinbarung gehalten. Mit dem Resultat, dass Gonzales sich diesen Dokumentarfilm als eine weitere Variation seiner Kunst einverleibt.

Shut Up and Play the Piano ist, mit anderen Worten, ein überlanges Chilly-Gonzales-Video geworden. Ein interessantes und anregendes Video. Aber filmisch vermisst man eine gewisse Eigenständigkeit.

Ab heute in Kino

Kulturkolumne

Was bleibt von uns?

Lernen von John Oglander

von Sophie Albers Ben Chamo  25.11.2025

Kultur

André Heller fühlte sich jahrzehntelang fremd

Der Wiener André Heller ist bekannt für Projekte wie »Flic Flac«, »Begnadete Körper« und poetische Feuerwerke. Auch als Sänger feierte er Erfolge, trotzdem konnte er sich selbst lange nicht leiden

von Barbara Just  25.11.2025

Jüdische Kulturtage

Musikfestival folgt Spuren jüdischen Lebens

Nach dem Festival-Eröffnungskonzert »Stimmen aus Theresienstadt« am 14. Dezember im Seebad Heringsdorf folgen weitere Konzerte in Berlin, Essen und Chemnitz

 25.11.2025

Hollywood

Scarlett Johansson macht bei »Exorzist«-Verfilmung mit

Sie mimte die Marvel-Heldin »Black Widow« und nahm es in »Jurassic World: Die Wiedergeburt« mit Dinos auf. Nun lässt sich Scarlett Johansson auf den vielleicht düstersten Filmstoff ihrer Laufbahn ein

 25.11.2025

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  24.11.2025

Nachruf

Das unvergessliche Gesicht des Udo Kier

Er ritt im Weltall auf einem T-Rex, spielte für Warhol Dracula und prägte mit einem einzigen Blick ganze Filme. Udo Kier, Meister der Nebenrolle und Arthouse-Legende, ist tot. In seinem letzten Film, dem Thriller »The Secret Agent«, verkörpert er einen deutschen Juden

von Christina Tscharnke, Lisa Forster  24.11.2025

TV-Kritik

Viel Krawall und wenig Erkenntnis: Jan Fleischhauer moderiert im ZDF den Kurzzeitknast der Meinungen

Mit »Keine Talkshow - Eingesperrt mit Jan Fleischhauer« setzt das ZDF auf Clash-TV: ein klaustrophobisches Studio, schnelle Schnitte, Big-Brother-Momente und kontroverse Gäste - viel Krawall, wenig Erkenntnis

von Steffen Grimberg  24.11.2025

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  24.11.2025

Nürnberg

»Tribunal 45«: Ein interaktives Spiel über die Nürnberger Prozesse

Darf man die Nürnberger Prozesse als Computerspiel aufarbeiten? Dieses Spiel lässt User in die Rolle der französischen Juristin Aline Chalufour schlüpfen und bietet eine neue Perspektive auf die Geschichte

von Steffen Grimberg  24.11.2025