Michael Gielen

Mutiger Erneuerer am Taktstock

Michael Gielen 2014 mit dem SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg Foto: imago

Die spektakulärste künstlerische Leistung des Dirigenten Michael Gielen war die Uraufführung der Oper Die Soldaten. Das Werk galt als unaufführbar, der Komponist Bernd Alois Zimmermann verlangte drei Dirigenten. Gielen wagte 1965 in Köln das Alleindirigat.

Erschwerend kam hinzu: Die Partitur war zur Premiere noch nicht komplett gedruckt, Gielen musste zwei Drittel des Werks aus der Handschrift dirigieren. Am gravierendsten aber war der Widerstand im Orchester. Viele der Musiker waren noch zu Zeiten der NS-Diktatur ausgebildet worden, ohne Kontakt zur modernen Musik. »Es gab viele falsche Noten«, sagte Gielen später in einem Interview. Trotzdem war die Uraufführung ein Erfolg, die Oper setzte sich danach international schnell durch.

KOMPLIZIERT Zimmermann hatte mit dem Theaterstück Die Soldaten des Sturm- und Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz eine gute Vorlage gewählt: Das Schicksal von Marie, die unter den Soldaten zur Prostituierten wird, bewegte die Zuschauer. Die hoch komplizierte Partitur begann zu leben und der zentrale Satz des Werks wurde als Botschaft verstanden: »Und müssen denn die zittern, die Unrecht leiden, und die allein fröhlich sein, die Unrecht tun?«

Seine jüdische Mutter floh mit ihm 1940 von Österreich nach Argentinien.

Michael Gielen ist selbst dem Unrecht begegnet. Er hat mehrere Jahre im Exil in Argentinien gelebt, wohin die Familie 1940 von Österreich aus geflohen war – seine Mutter war Jüdin. Geboren wurde er am 20. Juli 1927 in Dresden. Sein Vater war der Schauspieler und Regisseur Josef Gielen, der vor und nach dem Exil am Wiener Burgtheater engagiert war und 1948 dort Direktor wurde.

Der Dirigent ist mit Musik aufgewachsen und fing schon 1946 an zu komponieren. Zurück in Europa hat er sich intensiv mit klassischer und zeitgenössischer Musik beschäftigt, begann zu dirigieren. Er hat sich das Konzert- und Opern-Repertoire erarbeitet, die symphonischen Werke von Bach bis Mahler und die wichtigen Opern des 18. bis 20. Jahrhunderts.

Triumphal endete nach zehn Jahren seine Intendanz mit Wagners »Ring des Nibelungen«.

GLÄTTE Gielen war unter anderem an der Wiener Staatsoper, der Königlichen Oper in Stockholm, dem Belgischen Nationalorchester in Brüssel sowie an der Niederländischen Oper in Amsterdam. Sein Dirigat war sehr direkt, oft auch schneller als gewohnt. Er vermied jede Glätte, auch bei italienischen Belcanto-Opern.

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Als er 1977 Direktor der Oper Frankfurt wurde, war sein Stil vielen Zuschauern zu modern. Zum Skandal wurde Verdis Aida. Regisseur Hans Neuenfels hat das Werk in die Gegenwart verlegt, Aida war eine Putzfrau. Je länger Gielen aber in Frankfurt arbeitete, desto mehr gewann er das Publikum. Auch Aida wurde Kult.

Triumphal endete nach zehn Jahren seine Intendanz mit Wagners Ring des Nibelungen, inszeniert von Ruth Berghaus, dirigiert von Gielen. Nach der letzten Aufführung der »Götterdämmerung« musste er immer wieder vor den Vorhang treten, 72 Minuten lang.

Wenn Gielen ein Orchester regelmäßig dirigierte, wirkte er auch als Orchestererzieher.

STAATSKAPELLE Nach den Frankfurter Jahren leitete er bis 1996 das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden, er blieb von 1998 bis 2014 Gastdirigent, wurde schließlich Ehrendirigent. Ab den 90er-Jahren war er auch ständiger Gast bei beiden Berliner Orchestern, dem Konzerthausorchester und der Staatskapelle.

Neben dem klassischen Konzert- und Opernrepertoire hat Gielen sich in Berlin besonders der Musik des 20. Jahrhunderts gewidmet. Wenn Gielen ein Orchester regelmäßig dirigierte, sorgte er nicht nur für interessante, attraktive Programme, er wirkte auch als Orchestererzieher. Mit den Musikern hat er die großen symphonischen Zyklen von Beethoven, Bruckner und Mahler erforscht und ihnen die Moderne nahegebracht.

https://twitter.com/SWRSymphonie/status/1104085222524637186

Im Jahr 2014 leitete Gielen – nun 87 Jahre alt – sein letztes Konzert. Zuletzt lebte er am Mondsee im Salzkammergut in Österreich. Dort starb er am 8. März, wie erst jetzt bekannt wurde.

Feiertage

Weihnachten mit von Juden geschriebenen Liedern

Auch Juden tragen zu christlichen Feiertagstraditionen bei: Sie schreiben und singen Weihnachtslieder

von Imanuel Marcus  08.12.2025

Vortrag

Über die antizionistische Dominanz in der Nahostforschung

Der amerikanische Historiker Jeffrey Herf hat im Rahmen der Herbstakademie des Tikvah-Instituts über die Situation der Universitäten nach dem 7. Oktober 2023 referiert. Eine Dokumentation seines Vortrags

 07.12.2025

Zwischenruf

Die außerirdische Logik der Eurovision

Was würden wohl Aliens über die absurden Vorgänge rund um die Teilnahme des jüdischen Staates an dem Musikwettbewerb denken?

von Imanuel Marcus  07.12.2025

Los Angeles

Schaffer »visionärer Architektur«: Trauer um Frank Gehry

Der jüdische Architekt war einer der berühmtesten weltweit und schuf ikonische Gebäude unter anderem in Los Angeles, Düsseldorf und Weil am Rhein. Nach dem Tod von Frank Gehry nehmen Bewunderer Abschied

 07.12.2025

Aufgegabelt

Plätzchen mit Halva

Rezepte und Leckeres

 05.12.2025

Kulturkolumne

Bestseller sind Zeitverschwendung

Meine Lektüre-Empfehlung: Lesen Sie lieber Thomas Mann als Florian Illies!

von Ayala Goldmann  05.12.2025

TV-Tipp

»Eigentlich besitzen sie eine Katzenfarm« - Arte-Doku blickt zurück auf das Filmschaffen von Joel und Ethan Coen

Die Coen-Brüder haben das US-Kino geprägt und mit vielen Stars zusammengearbeitet. Eine Dokumentation versucht nun, das Geheimnis ihres Erfolges zu entschlüsseln - und stößt vor allem auf interessante Frauen

von Manfred Riepe  05.12.2025

Köln

Andrea Kiewel fürchtete in Israel um ihr Leben

Während des Krieges zwischen dem Iran und Israel saß Andrea Kiewel in Tel Aviv fest und verpasste ihr 25. Jubiläum beim »ZDF-Fernsehgarten«. Nun sprach sie darüber, wie sie diese Zeit erlebte

 05.12.2025

Genf

Entscheidung gefällt: Israel bleibt im Eurovision Song Contest

Eine Mehrheit der 56 Mitgliedsländer in der European Broadcasting Union stellte sich am Donnerstag gegen den Ausschluss Israels. Nun wollen Länder wie Irland, Spanien und die Niederlande den Musikwettbewerb boykottieren

von Michael Thaidigsmann  04.12.2025