Soziologie

Muslime und Demokratie

Welchen Islam wollen wir eigentlich haben? Foto: pr

Soziologie

Muslime und Demokratie

Ruud Koopmans stellt in »Das verfallene Haus des Islam« einen Zusammenhang zwischen Religion und Rückständigkeit fest

von Harald Loch  02.06.2020 10:31 Uhr

Kann die Soziologie in der Debatte um den Islam in seiner heutigen Erscheinungsform zur Klärung der Frage beitragen, wie Religion in mehrheitlich islamischen Gesellschaften zu diesem Erscheinungsbild beiträgt? Ruud Koopmans ist einer der renommiertesten europäischen Soziologen.

Der Niederländer ist Direktor der Abteilung »Migration, Integration, Transnatio­nalisierung« am Wissenschaftszentrum Berlin und Professor an der Humboldt-Universität. Sein zunächst auf Niederländisch erschienenes Buch Das verfallene Haus des Islam hat er für die deutsche Ausgabe selbst übertragen und überarbeitet.

Der Autor stützt sich auf anerkannte, seriöse Quellen.

Seine Methode leuchtet ein: »Obwohl reale Experimente, in denen der Forscher eine mögliche Ursache variiert und alle anderen Einflussfaktoren konstant hält, in den Sozialwissenschaften für viele Fragen unmöglich sind, können wir versuchen, in der realen Welt Fälle zu finden, die sich dieser experimentellen Situation so weit wie möglich nähern. Ich beginne jedes Kapitel mit kontrastierenden ›Fällen‹, die in vielerlei Hinsicht ähnlich sind, sich aber in Bezug auf die Religion unterscheiden.«

VERGLEICHE Mit dieser »vergleichenden Methode« stellt er etwa die islamischen Malediven der hinduistischen Insel Mauritius, beide im Indischen Ozean, gegenüber oder in einem anderen Kapitel Ägypten und Südkorea. »Diese Fallbeispiele zeigen, dass die islamischen Länder, Regionen und Migrantengruppen in Bezug auf Demokratie, Menschenrechte, politische und religiöse Gewalt, Wirtschaftswachstum und Integration in den letzten 50 Jahren hinter den nichtmuslimischen Vergleichsgruppen zurückgeblieben sind.« Der Autor stützt sich auf anerkannte, seriöse Quellen, sodass die von ihm in Vergleichstabellen aufgeführten »facts« nicht zu bezweifeln sind.

Bei der Frage, ob bei der zutage getretenen Korrelation zwischen islamischer Religion und dem Rückschritt im »verfallenen Haus des Islam« der von Koopmans gezogene Schluss als »zwingend« anzusehen ist, werden seine – überwiegend linksliberalen – Kritiker einiges zu bemängeln haben: In keiner der Tabellen ist China berücksichtigt.

Das bevölkerungsreichste Land unterdrückt massiv seine muslimische Bevölkerung. Die muslimischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion nimmt der Autor – vielleicht mangels gesicherter Datenbasis – nicht in den Blick. In ihnen ist sowohl die Rolle der Frauen als auch der Stand der Volksbildung weit entwickelter als in den von ihm benannten muslimischen Staaten. Anderen Kritikern wird auch eine denkbare Korrelation zwischen Erdölreichtum und Demokratiedefizit auffallen. Außer in Norwegen und in den USA gibt es in keinem größeren Förderland – ob muslimisch oder auch Venezuela und Russland – eine funktionierende Demokratie.

TERROR Auch hinsichtlich der Gewalt besitzt der fundamentalistische Islam keine Monopolstellung: Der israelische Journalist Nadav Eyal zitiert in seinem Buch Revolte eine Studie des U.S. Government Accountability Office von 2017, nach der in den USA seit dem 11. September 2001 85 tödliche Terrorangriffe verübt wurden. »Rechtsextreme Gruppen waren für 73 Prozent der Fälle verantwortlich. Islamisten für 27 Prozent.«

Es bleibt die Evidenz der Zahlen, die Koopmans zusammengetragen hat. Es bleibt die radikalisierende Einflussnahme der vor allem von der Türkei entsandten Imame in den Moscheen der westlichen Welt, es bleiben Hasspredigten, und es bleibt die beklagenswerte Blindheit der westlichen Demokratien gegenüber diesem Extremismus, der sich auf eine völlig anachronistische wörtliche Bezugnahme auf die heiligen Schriften des Islam stützt.

Interessant ist das Kapitel, das sich mit der Auseinandersetzung zwischen Israel und den Palästinensern befasst. Einerseits möchte Koopmans keine »Unklarheit darüber bestehen lassen, dass die anhaltende israelische Besetzung der 1967 eroberten Gebiete und die Siedlungspolitik im Westjordanland illegal sind«. Andererseits belegt er mit Wohlstandszahlen, Lebenserwartung und Bildungsstand, dass es den »unterdrückten« Palästinensern wesentlich besser geht als ihren Glaubensbrüdern in anderen Ländern.

Keine Gnade finden vor Koopmans Augen die Thesen eines Thilo Sarrazin, der den Koran – wie die muslimischen Fundamentalisten – wörtlich liest. Aber welchen Islam wollen wir eigentlich haben? Das müssen wohl die Anhänger dieser Milliarden Gläubige umfassenden Religion selbst entscheiden. Aber wir dürfen sie nicht auf ihren Abwegen unterstützen und womöglich finanzieren.

Ruud Koopmans: »Das verfallene Haus des Islam. Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt«. C.H. Beck, München 2020, 288 S., 22 €

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