Kulturkolumne

Motty Goldman sei Dank!

Foto: privat

Kulturkolumne

Motty Goldman sei Dank!

Meine Mutter ist mir nicht mehr peinlich

von Maria Ossowski  30.10.2025 12:25 Uhr

Sie war mir echt peinlich. Mütter sind zwar allen Teenagern peinlich, aber nicht alle Teenager besuchen Schulen mit der eigenen Mutter als Lehrerin und Konrektorin. Was immer meine Freunde anstellten, erlitt ich doppelt. Wenn sie tadeln musste, beschwerte meine Mutter sich zu Hause über meine Freunde – und die sich bei mir über meine Mutter. Mehrmals wollte ich beim Schulamt zwecks Wechsels der Institution vorstellig werden. Nur nimmt dort niemand eine Elfjährige ernst, wenn sogar der Schulrat keine Lust auf Ärger mit Frau Ossowski hatte.

So pflegte ich mein Peinlichkeitstrauma, liebte meine Mutter dennoch und trauerte, als sie zu jung starb. Es hätte mich stutzig machen sollen, wie viele ehemalige Schüler kondolierten. Aber erst das Schreiben eines Anwalts aus London, Jahre später, wirkte therapeutisch. Motty Goldman wollte per Facebook-Messenger wissen, ob ich mit der Lehrerin Frau Ossowski verwandt sei. Ich hatte zum Geburtstag meiner Mutter ein Jugendfoto von ihr gepostet, er habe sie erkannt.

Hatte sie ihn einst zu hart benotet?

Sofort kroch die Furcht hoch: Hatte sie ihn einst zu hart benotet? Die Eltern in die Schule zitiert? Den mir bis dato Unbekannten gar sitzen lassen? »Meine Mutter. Warum?«, entgegnete ich daher nur knapp.

Seine Antwort sei an dieser Stelle wortwörtlich wiedergegeben. Sie beleuchtet zwei im Deutschland vor einem halben Jahrhundert eher seltene Eigenschaften: die unbestechliche Menschenkenntnis meiner Mutter und ihre Vertrautheit mit Israel.

Alle Teenager schämen sich für ihre Mütter, aber irgendwann später schämen sie sich für ihre Scham.

Goldman schreibt: »Ihre Mutter habe ich niemals vergessen. Sie hat mich als Schüler unter ihre Fittiche genommen. Wir kamen aus Israel nach Berlin und ich direkt in die sechste Klasse der Grunewald-Grundschule – praktisch in die Arme der Frau Ossowski. Obwohl mein Deutsch das eines elfjährigen, vor wenigen Monaten nach Berlin gekommenen Kindes war, erkannte Ihre Mutter in mir etwas. Sie lud meine Eltern und mich zu sich nach Hause ein. Ich erinnere mich noch, dass ich das Beste anzog, was ich hatte … Eines Tages hat Ihre Mutter der Klasse den Unterschied zwischen einem ›starken‹ und einem ›schwachen‹ Verb erklärt. Dann fragte sie, wer weiß, ob ›haben‹ ein starkes oder ein schwaches Verb sei. Ich meldete mich und gab die richtige Antwort. Das hat die liebe Frau Ossowski schwer beeindruckt. Schon am nächsten Tag wusste die ganze Schule, dass Motty Goldman schwache und starke Verben erkennen kann, obwohl er erst vor wenigen Wochen aus Israel nach Berlin gekommen war.«

»Ihre Mutter war eine Autorität. Sie hatte Klasse«

Und weiter hieß es in der Messenger-Nachricht: »Ihre Mutter setzte sich dafür ein, dass ich eine Gymnasialempfehlung bekam. Das war zu der Zeit, als Ihre Mutter alles durchsetzte, was sie für richtig hielt. Obwohl viele Freunde andere Schulen wählten, bestand Ihre Mutter meinen Eltern gegenüber darauf, dass ich aufs beste Gymnasium gehe. Dort machte ich 1989 Abitur. Dann habe ich studiert und bin Rechtsanwalt in London geworden. Ihre Mutter war eine Autorität. Sie hatte Klasse.«

Vergangenen Freitag habe ich Motty Goldman gefragt, ob diese Zeilen in der »Jüdischen Allgemeinen« veröffentlicht werden dürfen. »Ja, sehr gerne, ich freue mich. Schabbat Schalom!«

Alle Teenager schämen sich für ihre Mütter, aber irgendwann später schämen sie sich für ihre Scham. Mit der Geschichte eines kleinen Jungen aus Israel endete das töchterliche Peinlichkeitsgefühl, und Friede ist eingekehrt in die Erinnerung an meine Mutter als Lehrerin.

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